Flutkatastrophe im Ahrtal
„Wie kann Gott das zulassen?“
Vor einem Jahr verloren 134 Menschen bei der Flutkatastrophe im Ahrtal ihr Leben, Tausende ihr Obdach. „Viele brauchten Wochen und Monate, um darüber sprechen zu können“, sagt Notfallseelsorgerin Silke Kaufmann.
Es ist Freitagmittag. Ihr Handy klingelt. Silke Kaufmann sitzt noch im Büro. „Kannst du fahren? Und nimm eine Zahnbürste mit.“ Mit diesen Sätzen beginnt der Einsatz der Notfallseelsorgerin im Ahrtal. In den Tagen zuvor hatte Dauerregen im südlichen Nordrhein-Westfalen und nördlichen Rheinland-Pfalz Überschwemmungen ausgelöst, die von manchen als Jahrtausend-Flut bezeichnet werden. Silke Kaufmann, Gemeindereferentin im Bistum Mainz und bis vor kurzem in Gau-Algesheim tätig, hatte Stunden vorher die Bilder im Fernsehen gesehen und dachte: „Das ist fürchterlich.“
Keine Struktur war für so eine Lage vorhanden
Mit drei weiteren Notfallseelsorgenden geht Silke Kaufmann in den Einsatz. „Wir hatten keine Vorstellung davon, was uns erwartet.“ Schon bei der Anfahrt überall Blaulicht. Die Lage sei an jenem Freitag unkoordiniert gewesen, sagt die Gemeindereferentin. „So etwas wie eine Leitstelle gab es nicht.“ Sie erinnert sich, wie Menschen in einer Halle registriert wurden. „Sie standen unter Schock, waren voll Schlamm, manchen fehlte ein Schuh.“ Aus einem Bus stiegen Menschen, die aus einem Altenheim evakuiert worden waren. Silke Kaufmann hat noch die Stimme einer Pflegerin im Ohr, die sagte: „Sie haben die ganze Zeit unter dem Dach ausgeharrt, ich habe sie gerettet.“ Auch an den Geruch von Urin und Exkrementen erinnert sich die Notfallseelsorgerin. Das Schlimme: „Das war kein punktuelles Ereignis. Das ganze Tal war betroffen. Überall Zerstörung. In solch einem Ausmaß habe ich so etwas noch nie erlebt“, sagt sie.
Für so einen, nicht vorstellbaren Einsatz war in der Notfallseelsorge einfach keine Struktur da, stellt Silke Kaufmann heute fest. Sie selbst schrieb beispielsweise per E-Mail an eine andere Gemeindereferentin in Altenahr und bot ihre Hilfe an. „Ich wandte mich einfach an irgendjemanden, um zu helfen.“ Nach einigen Wochen war den Kirchen in der Region klar: Wir brauchen Leute, die längerfristig vor Ort sind. Von der evangelischen Kirche im Rheinland wurden sechs Projektstellen geschaffen. Silke Kaufmann bewarb sich. „Ich bin dem Bistum Mainz sehr dankbar, dass ich Sonderurlaub bekam und eine der Projektstellen übernehmen konnte.“ Bis Ende Januar war sie in den Flutgebieten tätig, in Dernau, Mayschoß und Rech. Was ihr in den vergangenen Monaten klar wurde: „Die Menschen dort beginnen erst langsam zu realisieren, was ihnen widerfahren ist. Am Anfang befanden sich viele in einer Schockphase.“ Zuhören, vorsichtig nachfragen, die Menschen erzählen lassen, praktische Hilfe leisten und vermitteln, so sieht ihre Arbeit vor Ort aus. „In den ersten Tagen hatte ich für jeden oft nur eine Viertelstunde Zeit, weil so viele betroffen waren. Später gab es mehr Zeit für tiefere Gespräche“, berichtet die Gemeindereferentin. Nicht nur um Todesangst und Angst um Angehörige ging es darin. „Eine Familie hatte Hilfeschreie von Nachbarn auf einem Dach gehört. Dann wurde das ganze Haus vor ihren Augen von den Wassermassen mitgerissen“, berichtet Kaufmann. „Wenn Menschen nicht helfen können, fühlen sie sich oft schuldig.“ Auch selbst Hilfe anzunehmen, sei ein sensibles Thema. So gab es zum Beispiel in einer Pfarrgemeinde eine 150-Euro-Soforthilfe. „,Kann ich das annehmen?‘ Das ist so eine Frage, die Menschen umtreibt“, erzählt sie.
„Vieles sieht noch so aus wie kurz nach der Flut“
Den wachsenden Unmut über schleppende staatliche Wiederaufbauhilfe kann Silke Kaufmann nachvollziehen. „Im Grunde sieht im Ahrtal vieles immer noch so aus wie in den Tagen nach der Flut.“ Dennnoch müsse sichergestellt werden, dass die Gelder an den richtigen Stellen ankommen, das brauche Zeit.
Auf die Frage, welche Rolle Gott und Glaube in ihren Gesprächen gespielt haben, antwortet die Seelsorgerin: „Wie kann Gott das zulassen? Diese Frage, die Menschen gestellt haben, war auch meine Frage. Zugleich habe ich Zeichen der Hoffnung wahrgenommen.“ In der höher gelegenen Dernauer Kirche, in der kurz nach der Flut Verstorbene aufgebahrt waren, hatte man eine Mitte gestaltet, um der Toten zu gedenken. Ende August fand dort wieder eine Taufe statt. An die Redaktion schickt Silke Kaufmann ein Foto, das sie kurz nach der Flut in Dernau aufgenommen hat: Ein Heiligenhäuschen, in dem eine Kerze brennt. „Das ist mein ganz besonderes Bild. Das hat mich sehr angerührt.“
Von Anja Weiffen