Das Ethik-Eck: "Darf es doch etwas mehr sein?"

"Wir schenken uns nix!"

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Die Frage lautet diesmal: „Unter uns Geschwistern haben wir das Schenken zu Geburtstagen und zu Weihnachten eingestellt. Jetzt wird meine jüngere Schwester 60. Und ich hätte eine Idee für ein Geschenk, über das sie sich sehr freuen würde. Darf ich es trotz der mal getroffenen Vereinbarung einfach schenken?“



"Ich kenne Dich"
Jede Beziehung entwickelt über die Zeit Regeln und Gewohnheiten im Schenken. Im besten Fall lernt man mit jedem Jahr mehr, wie man gelungen beschenken kann. Das sieht für jede und jeden sicherlich anders aus. Der amerikanische Paar- und Beziehungsberater Gary Chapman unterscheidet daher fünf Sprachen der Liebe: Lob, Quality-Time, Geschenke, Hilfsbereitschaft und Zärtlichkeit. So kann ein Mensch, der vor allem über Hilfsbereitschaft beschenkt werden kann, vermutlich mehr damit anfangen, überraschend sein Auto geputzt und gesaugt vorzufinden, als neue Bettwäsche geschenkt zu bekommen.
Interessant finde ich dabei, dass nicht jedes Geschenk einen materiellen Wert haben muss, um eine echte Freude auszulösen. Ein ernst gemeintes Lob, eine herzliche Umarmung oder eine ausgeräumte Spülmaschine können genauso perfekte Geschenke sein wie eine Reise oder eine lang gewünschte Handtasche. Eine Sache steht fest: Je besser ich also die Liebes-Sprache des anderen kenne, desto sicherer kann ich mir über mein Geschenk sein.
Auch die Gründe, warum in unserer Familie die Regel des „Nichts-Schenkens“ eingeführt wurde, können helfen, die Liebes-Sprache der Schwester herauszufinden: War es praktisch nicht möglich, alle immer zu beschenken, weil die Familie so groß ist? Ist es meiner Schwester besonders wichtig, dass keine „unnützen“ Sachen gekauft werden? Gab es schon mal schlechte Erfahrungen mit unwillkommenen Geschenken?
Gelungene Geschenke sagen auf der Symbol-Ebene: „Ich kenne dich und ich will dir eine Freude machen. Nach deinen Bedingungen.“ Habe ich zum 60. Geburtstag also wirklich etwas gefunden, das der Liebes-Sprache meiner Schwester entspricht? Ja? Prima! Darf ich es also schenken? Ja klar!
PS: Ganz sicher kann man wahrscheinlich trotzdem nicht sein. Menschen verändern sich – niemand bleibt 60 Jahre gleich. Auch das „lieb-gemeinteste“ Geschenk kann und darf natürlich abgelehnt werden. Auch für eine Ablehnung sollte ich also vorbereitet sein. Und: Auch diese hilft wieder, die Schwester besser zu verstehen, neu zu lernen, was sie braucht und welche Liebes-Sprache sie spricht.

Bernadette Wahl
hat Theologie und Religionspädagogik studiert, ist systemische Beraterin und arbeitet für das Bistum Fulda in der Citypastoral.

 

Ohne Anlass schenken
Was soll ich nur schenken? Gerade vor Weihnachten zerbrechen sich viele darüber den Kopf. Was soll es für Tante Maria sein? Noch eine Kleinigkeit für die nette Kollegin, und wer hat eine passende Idee für Oma?
Viele empfinden das als anstrengend, als übertrieben oder zuviel Konsum. Und dazu kommen noch die gut gemeinten, aber nicht ganz passenden Geschenke, für die man sich höflich bedanken muss.
Wenn man kein Kind mehr ist, verändern sich die Wünsche. Es gibt oft das Gefühl, man habe „alles“, und das, was wirklich fehlt, gibt es nicht in Geschenkpapier gepackt.
Da kann es sehr vernünftig sein, zu vereinbaren, dass man sich unter Geschwistern nichts schenkt. Entspannend, und hoffentlich eine Konzentration auf das Wesentliche.
Aber was ist, wenn jemandem zufällig der Knaller einfällt, genau das, worüber sich jemand ganz bestimmt freuen würde?
Und dann ist da ja noch die eigene Freude, zu schenken, statt immer vernünftig zu sein.
Was wäre die mögliche Reaktion, wenn das Geschenk überreicht würde?
Es gibt das Risiko, jemanden zu beschämen, ohne das zu wollen. Die Beschenkte hatte beim letzten Geburtstag des Bruders ja nichts in Händen. Vielleicht hätte sie nicht mal eine gute Idee gehabt.
Auch andere, eventuell noch Anwesende, haben kein Geschenk.
Vielleicht auch ein leichter Ärger: hier hält sich jemand nicht an die Absprachen. Was ist in Zukunft mit unseren Vereinbarungen? Gilt das nicht mehr? Muss ich bei nächster Gelegenheit auch eine so großartige Idee haben?
Das tolle Geschenk könnte den Empfänger in zwiespälti-ge Gefühle bringen und die schlichte Freude kompliziert machen. Oder gar unmöglich.
Also eher nicht?
Aber da ist ja noch die tolle Idee. Und die Lust, der
Schwester was Gutes zu tun und die Beziehung zu ihr außer der Reihe zu würdigen. Und der 60. ist ja auch ein besonderer Anlass.
Es wäre wirklich schade drum.
Also doch?
Vielleicht hilft es, sich vom Anlass zu lösen, zu dem alle, wie vereinbart, ohne Geschenk kommen.
Indem man zu irgendeinem oder zu keinem Anlass schenkt, zum Namenstag, zum Jahreswechsel oder einfach so, weil man jemanden gern hat. Da ließe sich auch sagen: Das ist jetzt außer der Reihe, unsere Vereinbarung gilt weiter, ich konnte meiner Idee nicht widerstehen, ich habe mich gefreut, dass mir das eingefallen ist und hoffe, dass auch Du Dich freust.
Und das alles privat und nicht im öffentlichen Rahmen einer Feier. Vielleicht ein Kompromiss – und hoffentlich Anlass zur gemeinsamen Freude.

Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt.

 

Aus guten Gründen
Die meisten Familien pflegen an Fest- und Feiertagen ihre ganz eigenen Bräuche und Routinen. Oftmals zeichnet sich das bereits im Kleinen ab, betrifft etwa Abläufe, Dekoration, Mahlzeiten ebenso wie unseren Umgang mit Geschenken. Diese Rituale schaffen Halt und bieten Struktur, geben wichtige soziale
Muster und Regeln vor. Sie haben sich mit Ihren Geschwistern darauf geeinigt, sich keine Geschenke (mehr) zu machen. Offenbar hat sich die Absprache zwischen Ihnen auch für einen bestimmten Zeitraum bewährt. Jetzt möchten Sie die Vereinbarung ändern beziehungsweise denken zum 60. Geburtstag Ihrer Schwester über eine Ausnahme von dieser Regelung nach. Ihre Frage nach dem „Dürfen“ deutet dabei an, dass das Ändern solcher Regeln und Bräuche bisweilen eine gewisse Irritation auslösen kann und vielfach eine sorgfältige Prüfung verlangt.
Eine Regel gilt nicht bloß um der Regel willen. Anders als universale Gesetze und Prinzipien erheben diese Absprachen nicht den Anspruch, für sämtliche Menschen verbindlich zu sein. Vielmehr werden diese Regeln innerhalb einer Gruppe individuell ausgehandelt und bieten somit jenen Personen einen Maßstab, die sich dem Gefüge konkret zugehörig fühlen und die darin geltenden Regeln weitgehend teilen – und zwar weil es oft gute Motive dafür gibt. Das wird auch auf Ihre Übereinkunft zutreffen. Was hat Sie einst zu Ihrer Entscheidung bewogen? Wollten Sie mit der Übereinkunft primär ein Zeichen gegen den hohen Konsumzwang setzen? Oder ging es Ihnen darum, sich vom Stress an diesen Tagen zu entlasten? Vielleicht war das Budget dafür lange zu knapp? Oder es hat Ihnen einfach an Ideen gefehlt?
Unsere sozialen Muster und Regeln sind also häufig von Absichten und Umständen geprägt, bleiben sensibel für unsere jeweilige Situation. Entsprechend können sie aus guten Gründen (!) eine Modifikation oder gar Aufhebung erfahren. Der Geburtstag Ihrer Schwester mag insofern eine willkommene Anregung für Sie alle sein, um Ihre Regelung gemeinsam zu reflektieren, das heißt sie unter Umständen
zu aktualisieren oder nach näherer Abwägung doch daran festzuhalten.
Auf diese Weise bestätigt dieses Beispiel das, was sich schon in anderen Nummern des Ethik-Ecks gezeigt hat: Die Ethik liefert nicht immer fertige Rezepte. Manchmal hält sie Menschen schlicht dazu an, das eigene Handeln bleibend zu examinieren. Indem sie Pauschalantworten vermeidet und unsere Aufmerksamkeit gezielt darauf lenkt, dass wir uns die Komplexität und Wandelbarkeit von Situationen bewusst zu machen haben, will sie zur selbstständigen Reflexion und kontinuierlichen Evaluierung jener Muster anregen, die unserem Miteinander zugrunde liegen.

Dr. Stephanie Höllinger
ist Assistentin am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Mainz.