Kardinal Reinhard Marx beim Erfurter Kreuzganggespräch
„Wir sind nicht Gott“
Marx warb im Erfurter Coelicum für eine Freiheit, die sich für das Gute entscheidet. | Foto: Holger Jakobi |
Die offene Gesellschaft, Freiheit und Demokratie sind verletzliche Errungenschaften, so der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx bei den diesjährigen Kreuzganggesprächen am Erfurter Dom. Zudem sollten sich die Menschen immer wieder vor Augen stellen, dass die Demokratie erst ganz kurze Zeit die Gesellschaft in Europa prägt. Wenn diese jetzt infrage gestellt werde, sei dies nicht zuletzt eine politische und soziale Folge eines unreglementierten Kapitalismus, so Marx. „Schauen Sie auf die Wahlergebnisse. Da ist viel Unmut und wir spüren, so kann es nicht weitergehen.“ Ohne soziale Gerechtigkeit besteht die Gefahr, dass die alten „Dämonen“ der Vergangenheit zurückkehren. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Gebraucht werde heute eine Idee von Fortschritt und die Auseinandersetzung mit der Frage, wohin die Menschen gesellschaftlich gehen wollen. „Was können wir als Christen für die Menschen tun, die mit uns in diesem Land leben?“ Weiter sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: „Es geht um die Zukunft des offenen Gemeinwesens. Ich glaube nicht, dass der Kampf um die Freiheit zu Ende ist. Es bleibt ein langer Weg.“ Freiheit müsse den Menschen im Blick behalten. Das Christentum stehe für die Freiheit, sich für das Gute zu entscheiden. Dafür bedürfe es Bildung, Kultur, Familie und Religion.
Hinweis auf die Einheit der Menschenfamilie
Kardinal Marx setzte sich mit der Frage auseinander, was Kirche für die Gesellschaft tun kann. Seine Meinung: Sehr viel. Dabei benannte er drei Punkte. Erstens: Christen können Gott anbieten, auf ihn hinweisen. Gott sei nicht verfügbar, der Mensch ebenfalls nicht. Für eine gesamteuropäische Verfassung – sofern diese einmal kommt – wünscht sich der Kardinal den einleitenden Satz: „Wir sind nicht Gott.“ Zweitens müsse die Kirche immer wieder auf die „Einheit der Menschenfamilie“ hinweisen. Drittens: Christen sollen die Schwachen in den Blick nehmen. Die Kranken und die „Nichtmarktfähigen“. Geschieht dies nicht, höre Kirche auf, Kirche zu sein, warnte Marx. Abschließend benannte der Referent als vierten Punkt den Hinweis auf die Transzendenz. Darauf, dass das Göttliche in der Welt erfahrbar bleibe. Weiter könne Kirche dort Antworten geben, wo andere Stimmen verstummen. Beispielsweise nach Katastrophen. Aber auch der Einsatz für die Sonntagsruhe weise auf die besondere Würde des Menschen hin.
Kardinal Reinhard Marx forderte dazu auf, sich nicht von zurückgehenden Mitgliederzahlen resignieren zu lassen. Kirche müsse vielmehr immer wieder den Auftrag Jesu annehmen, für alle Menschen da zu sein. Es komme auf die Frage an, die Jesus selbst im Evangelium etwa so stellt: „Was kann ich für dich tun?“ Was kann ein Christ für seinen Nachbarn, seinen Kollegen, den Fremden tun? Eine Antwort heißt zuhören, die Begegnung suchen. Christen sollen deutlich machen, dass sie von Jesu her etwas anzubieten haben. „Die Leute spüren, wo Christen sind.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Marx erinnerte zudem an das Grundgesetz und zeigte sich tief von dessen erster Aussage beeindruckt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In ihr spiegelt sich das christliche Menschenbild. Ein Staat, der sich als offene Gesellschaft verstehe, müsse ein Interesse daran haben, dass diese Würde unantastbar bleibe. Sie gelte für alle: Weiße, Schwarze, Frauen, Männer, Homosexuelle oder nicht. Wo immer dieser Grundsatz gelebt werde, höre jede Allmachtsfantasie auf. Es gehe nicht um eine Klasse, eine Partei, eine Gruppe, sondern immer um den einzelnen Menschen, dessen Würde unantastbar ist. Marx machte weiter deutlich: „Christentum ist reflektierender Glaube, der sich der Vernunft stellt.“
(jak)