Taizé: Frère Alois Löser über seine Zeit als Prior
„Wir wollen Versöhnung leben“
Foto: kna/Anna Fries
Seit 2005 sind Sie Prior von Taizé. Im vergangenen Sommer haben Sie verkündet, diese Aufgabe abgeben zu wollen. Warum?
Schon seit einigen Jahren denke ich, dass eine Veränderung notwendig ist. Die Kirche und die Welt verändern sich sehr schnell und auch wir Brüder müssen uns fragen, wie wir in der heutigen Welt, die anders ist als vor 20 Jahren, das Evangelium leben können. Hinzu kommt, dass immer mehr von unseren jungen Brüdern Frère Roger, unseren Gründer, nicht mehr gekannt haben. Diese Generation muss nun neue Wege finden, unsere Berufung zu leben. Schon vor zwei Jahren habe ich meinen Brüdern den Wechsel angekündigt. Wir sind noch eine recht junge Gemeinschaft und ich dachte: Nach 18 Jahren als Prior ist es gut!
Wie haben Sie Ihren Nachfolger bestimmt?
Frère Roger hat in der „Regel von Taizé“, die er für unser gemeinsames Leben geschrieben hat, nichts darüber gesagt, wie dieser Prozess ablaufen soll. Ich habe alle Brüder befragt, wen sie sich als meinen Nachfolger vorstellen könnten. Jeder hat zwei Namen aufgeschrieben, und nach dieser Befragung habe ich Frère Matthew als neuen Prior bestimmt.
Warum wurde gerade er gewählt? Was zeichnet ihn aus?
Ich denke, er hat die Fähigkeit, die Brüder noch mehr zusammenzuführen und dafür zu sorgen, dass sich jeder bei den zu treffenden Entscheidungen noch stärker einbringen kann.
Wie gestalten Sie nun den Übergang?
Seit dem Sommer übernimmt Frère Matthew immer mehr Verantwortung. Es ist gut, dass wir diese Übergangszeit haben. Dieser Wechsel geschieht nicht unter Druck, sondern kann frei und in Ruhe stattfinden. Am ersten Advent beginnt dann ein neues Kirchenjahr – und die Communauté hat einen neuen Prior.
Welche Aufgaben hinterlassen Sie ihm?
Unser Leben ist sehr vielfältig und es gibt viele Fragen: Es geht um unseren Lebensunterhalt, die Töpferei, aber auch um das gemeinsame Gebet in der Kirche, den Kontakt zu unseren Brüdern, die in kleinen Fraternitäten auf den anderen Kontinenten leben. Auch die Gestaltung der Jugendtreffen in Taizé und an anderen Orten auf der Welt und vieles Weitere muss bedacht werden.
Was werden Sie nach Ihrem Rückzug tun?
Ich werde zwei Jahre außerhalb von Taizé leben. Zunächst gehe ich für zwei oder drei Monate in eine Gemeinschaft nach Norditalien, mit der wir eng verbunden sind, und dann nach Kuba, wo wir seit sieben Jahren eine kleine Fraternität haben.
Also auch für Sie ein Neuanfang.
Ja, ich wollte nicht nur mit etwas aufhören, sondern auch etwas Neues beginnen. Es ist ein Aufbruch in eine neue Welt, die ich kaum kenne. Ich war nur einmal zu Besuch auf Kuba. Die Situation dort ist nicht leicht, aber ich freue mich sehr darauf! Es ist für mich ein neuer Lebensabschnitt.
Sie gehören seit fast 50 Jahren zur Gemeinschaft von Taizé. Wie war Ihr erster Kontakt?
1973 bin ich nach dem Abitur für ein Jahr als Freiwilliger nach Taizé gekommen. Ich kannte den Ort schon durch Fahrten mit meiner Kirchengemeinde in Stuttgart, wo ich aufgewachsen bin. In diesem Jahr als Freiwilliger ist mir klargeworden, dass mein Weg hier ist.
Was hat Sie dort beeindruckt?
Vor allem das gemeinsame Gebet mit den Gesängen und der Stille! Aber ich habe auch die Bibel entdeckt. Und ich habe die Universalität der Kirche erlebt, die vielen Menschen von allen Kontinenten hier. Mir wurde klar, dass Kirche etwas Wunderbares ist und dass der Glaube im Alltag etwas bewirken kann.
Wo haben Sie das entdeckt?
Im Frühjahr 1974 haben mich die Brüder für drei Wochen in die Tschechoslowakei geschickt. Dort herrschte damals noch tiefster Kommunismus, die Kirche wurde unterdrückt. Gleich zu Beginn meiner Reise habe ich eine Familie besucht. Wir haben zusammen gebetet und uns ganz einfach gefreut, zusammen sein zu können. Da wurde mir bewusst: Wir können Trennungen überwinden, von denen man dachte, sie würden für immer bestehen – auch die Trennung Europas. Ich spürte damals, dass die Mauer in Europa nicht für immer bestehen würde und dass trotz der Wunden der Geschichte Versöhnung möglich ist. Und wir Christen können damit beginnen. Das hat mich fasziniert.
Diesen Versöhnungsgedanken leben Sie in Taizé ja auch ganz konkret.
Ja, genau, auch auf konfessioneller Ebene. Wir leben als Brüder aus verschiedenen Kirchen zusammen: Ich bin Katholik, Frère Matthew ist Anglikaner, Frère Roger kam aus der reformierten Kirche. Aber wir wollen Versöhnung leben. Wir wollen nicht getrennte Gruppen bleiben, die wohlwollend miteinander umgehen, sondern wir wollen die Einheit vorwegnehmen.
Frère Roger hat mit diesem Gedanken die Communauté gegründet. Welche Rolle hat er für Sie gespielt?
Eine sehr große Rolle! Durch ihn habe ich noch besser verstanden, dass Glauben etwas mit Befreiung und mit innerer Freiheit zu tun hat ... dass Gott die Liebe ist. Der Glaube ist keine Gewissheit, sondern Vertrauen. Ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort. Es ist schwierig, wenn mir Jugendliche abends in die Kirche sehr existenzielle Fragen stellen. Und ich bin manchmal verzweifelt, wenn ich all das Leid auf der Welt sehe. Aber ich habe ein Vertrauen, dass die Liebe Gottes stärker ist. Für diese Dimension des christlichen Glaubens hat mir Frère Roger die Augen und das Herz geöffnet.
Welches Verhältnis hatten Sie zueinander?
Frère Roger hatte die Gabe, einen familiären Geist in unserer Communauté zu wecken. Er hatte immer Zeit für die Brüder, für ein Gespräch oder einen Spaziergang. Er verstand es, unserem gemeinsamen Leben etwas Zweckfreies zu verleihen.
War er in diesem Punkt auch ein Vorbild für Sie als Prior?
Ja, aber ich muss auch ganz deutlich sagen, dass ich das nicht so fortführen konnte. Es war klar, dass ich nicht Frère Roger bin. Nach seinem Tod hatte ich den Eindruck, dass ich nicht allein der Nachfolger dieses charismatischen Gründers sein kann. Wir Brüder tragen dieses Erbe gemeinsam weiter.
Frère Roger hatte Sie schon 1997 als sein Nachfolger bestimmt. Wie war das für Sie?
Ein erstes Mal hat er eigentlich schon 1978 davon gesprochen. Damals war das für mich aber noch weit weg. Ich habe nicht mehr daran gedacht, und auch später haben wir wenig darüber gesprochen. Erst in den 90er Jahren ist Frère Roger wieder darauf zurückgekommen. Er hat damals mit allen Brüdern über meine Ernennung gesprochen. Aber zu dem Zeitpunkt konnten wir uns ein Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen. Nachträglich hat es uns sehr geholfen, dass Frère Roger zu Lebzeiten selbst nie gesagt hat, was wir später einmal tun sollen. Er hat auch mir nie gesagt, wie ich Prior sein soll. Er hat uns einfach sein Vertrauen geschenkt: „Ihr macht weiter ...“ – Das hat uns eine große Freiheit und Gelassenheit gegeben.
2005 wurde Frère Roger im Alter von 90 Jahren während des Abendgebets von einer psychisch kranken Frau getötet. Sie mussten den Dienst des Priors sehr plötzlich übernehmen. Fühlten Sie sich darauf vorbereitet?
Der Tod von Frère Roger war ein riesiger Schock! Ich wusste nicht, wie es weitergehen würde. Aber ich hatte ein Grundvertrauen: Wir werden geführt! In schwierigen Situationen kann man manchmal nur einen Schritt nach dem anderen tun. Der Tod von Frère Roger war für uns aber auch ein positiver Schock, weil uns Brüdern klarwurde, dass wir jetzt alle zusammenstehen. Wir erlebten eine tiefe Verbundenheit. Ich fühlte mich in den Tagen und Wochen nach dem Tod von Frère Roger in besonderer Weise von der Gemeinschaft getragen.
Gab es damals etwas, was Sie sich für Ihre Zeit als Prior vorgenommen haben?
Ja. Am Nachmittag vor seinem Tod sagte Frère Roger zu einem Bruder: „Wenn unsere Communauté dazu beitragen könnte, dass eine größere Offenheit und Weite entsteht ...“ Er führte den Satz aber nicht zu Ende. Der Bruder hat diesen Satz damals aufgeschrieben – und mich hat er zutiefst berührt. Was wollte er sagen, wenn er von „Weite“ sprach? Was meinte er damit? Ich bezog es erst einmal auf das Leben der Communauté und darauf, dass wir jedem Bruder gegenüber eine Weite haben, dass wir nicht engherzig und ängstlich werden
Wie haben Sie den Satz noch interpretiert?
Wir haben den Satz auch als Auftrag verstanden, die Universalität der Jugendtreffen zu betonen. Wir haben vermehrt Treffen auf den anderen Kontinenten organisiert; ein Jahr danach waren wir zum Beispiel in Kalkutta. Und diese Weite hat sich auch auf die Treffen in Taizé ausgewirkt, die noch internationaler geworden sind. Offenheit und Weite bedeutete für uns auch, uns 2015 erneut der Herausforderung der Flüchtlinge zu stellen. Wir fanden dabei in der unmittelbaren Umgebung von Taizé viel Unterstützung, auch von Nichtchristen. Und ich kann sagen, dass wir menschlich von denen, die alles zurückgelassen haben, viel empfangen haben.
Wenn Sie nun auf 50 Jahre zurückblicken: Wie hat sich die Gemeinschaft entwickelt?
Die Vielfalt in unserer Communauté ist größer geworden. Wir sind Brüder aus 25 verschiedenen Ländern. So sind zum Beispiel seit einigen Jahren zwei Brüder aus China unter uns. Das wäre vor 50 Jahren noch undenkbar gewesen.
Hat sich noch etwas verändert?
Als ich nach Taizé kam, war die Sprache des Glaubens noch selbstverständlicher. Man glaubte oder man glaubte nicht, aber man konnte mit Begriffen wie Auferstehung, Altes Testament oder Buch Genesis etwas anfangen. Heute sagen diese Worte vielen jungen Menschen nichts mehr.
Wer kommt heute als Gast zu Ihnen?
Die Bandbreite ist größer geworden. Es kommen junge Menschen, die fest im Glauben verwurzelt sind, und andere, die keinen Bezug mehr zur Kirche haben, aber die sehr existenzielle Fragen haben. Wenn jemand sagt, er sei nicht gläubig, ist er aber vielleicht dennoch gerne hier und lebt etwas von dieser geschwisterlichen Gemeinschaft. Die Zeit der Stille und das Gebet helfen den jungen Menschen, zu einer Innerlichkeit vorzustoßen.
Was bewegt die Menschen, die zu Ihnen kommen?
Immer mehr junge Menschen sind sehr besorgt, was ihre eigene Zukunft und die Zukunft unseres Planeten betrifft. Ich bewundere aber auch, wie viele sich für die drängenden Fragen engagieren – wie das Klima und die wachsende Gewalt auf der Welt. Wer zurzeit nicht kommen kann, sind vor allem die früher so zahlreichen Ukrainer. Ein Bruder war seit Kriegsausbruch viermal in der Ukraine. Ich selbst war am letzten Weihnachten dort, um den Menschen zu zeigen, dass wir sie nicht vergessen.
Wenn Sie heute zurückschauen: Gibt es Momente, die Ihnen besonders positiv in Erinnerung sind?
Ja, zum Beispiel die Treffen auf den anderen Kontinenten. Ich denke mit großer Dankbarkeit an die Treffen in Südafrika, Benin, Ruanda und Kenia zurück. In Ruanda kamen damals 7000 junge Menschen zusammen, die vorher nicht wussten, welche Gastfamilien sie aufnehmen würden, ob Hutus bei Tutsis unterkommen oder umgekehrt. Und dann die Gebete: Wir haben mit afrikanischen Gesängen begonnen, voll Freude und Rhythmus, die dann in ein stilles, meditatives Gebet übergingen. Das war beeindruckend.
Zum Blick auf die schwierigen Zeiten gehören auch die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs in Taizé, die 2019 publik wurden.
Ja, es war ein unglaublicher Schock für uns, als sich Menschen bei uns meldeten, die sagten, sie seien von Brüdern missbraucht worden. Ich habe den Betroffenen von Anfang an geglaubt. Dabei wurde mir klar: Was da geschehen ist, ist für die Betroffenen so tiefgreifend und schlimm. Wir müssen uns dem als Gemeinschaft stellen und gleichzeitig alles tun, damit Taizé ein sicherer Ort ist.
Wo stehen Sie heute in diesem Prozess?
Die Arbeit geht weiter. Ein Fall ist vor Gericht und der betreffende Bruder gehört nicht mehr der Communauté an. Darüber hinaus befasst sich eine unabhängige Kommission in Frankreich mit fünf weiteren Vorwürfen.
Haben Sie in der Gemeinschaft auch persönliche Konsequenzen gezogen?
Wir Brüder machen mittlerweile Fortbildungen zu diesen Fragen. Außerdem bieten wir für die Besucher jede Woche ein Treffen zu diesem Thema an. Wir stellen uns den Fragen der Menschen und wir spüren, wie notwendig diese Treffen sind. Es kommen auch Menschen, die woanders Missbrauch erlebt haben, und sprechen hier zum ersten Mal über das Leid, das ihnen zugefügt wurde.
Was wünschen Sie sich in Zukunft für die Gemeinschaft von Taizé?
Ich wünsche mir, dass die Freude des Evangeliums und des Glaubens uns wirklich trägt und zu offenen Menschen macht, die zuhören können. Einander zuzuhören ist so wichtig: denen zuhören, die hierherkommen – und auch auf das hören, was in der Welt vor sich geht. Dabei müssen wir uns immer wieder fragen, wie wir uns den Herausforderungen in der Kirche und in der Welt heute stellen können!
Ein Leben in Taizé
Der Katholik Frère Alois (69) wuchs in Stuttgart auf und lebt seit seinem 19. Lebensjahr in Taizé. Er studierte in Lyon Theologie, ist aber kein Priester. Als der Gründer der Gemeinschaft und damalige Prior Frère Roger 2005 durch ein Messerattentat getötet wurde, übernahm Frère Alois den Dienst des Priors. Er organisierte unter anderem die großen Jugendtreffen und komponierte einige der geistlichen Gesänge. Der in den 1940er Jahren gegründeten Taizé-Bruderschaft gehören aktuell etwa 100 Männer an, die aus unterschiedlichen christlichen Kirchen stammen. Sie verpflichten sich zu Ehelosigkeit, einfachem Lebensstil und regelmäßigem Gebet.