Interview

Wohin steuert die Kirche im Bistum Hildesheim?

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Der Gottesdienstbesuch ist überall zurückgegangen.
Nachweis

kna / Harald Oppitz

Ob es um Mitgliedschaft, Kirchenbesuch oder Sakramentenspendungen geht – die Kirche verzeichnet seit Jahrzehnten einen Abwärtstrend. In jüngster Zeit hat die Dynamik dieser Entwicklung zugenommen. Was sagt der Leiter des Bereichs Sendung im Bischöflichen Generalvikariat dazu? Ein Gespräch mit Rat Christian Hennecke.

Die im November veröffentlichte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) belegt, dass über 40 Prozent der Katholiken überlegen, aus der Kirche auszutreten und nur noch 9 Prozent Vertrauen in die katholische Kirche haben. Der Kirchenbesuch, der ohnehin rückläufig war, ist mit Corona eingebrochen und erholt sich kaum. Haben Sie die Ergebnisse der Studie überrascht?


Nein, sie bestätigen das, was viele Soziologen schon seit längerer Zeit sagen. Und das erleben wir alle miteinander. Allerdings glaube ich, dass wir die genannten Punkte noch mal einzeln betrachten müssen.


Fangen wir mit der Austrittsneigung an.


Die ist in beiden Kirchen sehr hoch. Bei den Katholiken hängt das auch mit der Missbrauchskrise und einem damit einhergehen- den Vertrauensverlust zusammen. Wir spüren zudem eine Polarisierung in der Kirche, hinzu kommen immer wieder Äußerungen aus dem Vatikan, die hier auf Unverständnis stoßen. Das verstärkt die Irritationen. Wenn jemand schon nicht mehr so ganz an der Kirche hängt, dann ist das oft ein Auslöser für den Austritt – aber auch, wenn Gläubige besonders mit ihrem Herzen an Glauben und Kirche hängen, dann ist das Grund für eine große Enttäuschung und Zorn. Und für manche ist das dann ein Grund, auszutreten. Bei der vorherigen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die nur von der evangelischen Kirche durchgeführt wurde, wurde bereits eine hohe Austrittsneigung festgestellt. Interessant ist, dass die Leute, die damals gesagt haben, dass sie austreten wollten, dies später auch getan haben. Wenn das bei uns so ähnlich ist, dann erwartet uns in den nächsten Jahren noch mal eine Beschleunigung der Dis- tanzierung. Das wird dazu führen, dass Ressourcen abnehmen. Das wiederum bedeutet, dass wir uns noch fokussierter fragen müssen, in welche Richtung wir künftig gehen wollen.


Dazu kommen wir gleich, vielleicht zunächst ein Wort zum Kirchenbesuch.


Da haben wir eine herausfordernde Entwicklung: Einerseits werden wir immer weniger eucharistische Gottesdienste haben, weil wir immer weniger Priester haben. Anderseits sind immer weniger Leute da, die mitfeiern. Drittens gibt es eine Tendenz, dass Menschen an manchen Orten nicht in die Gottesdienste gehen, weil sie dort nicht das finden, was sie erwarten und erwarten dürfen. Diese Gottesdienste führen einen nicht in die Mitte der Begegnung mit Gott, weder die Predigten, noch die Art und Weise, wie sie gefeiert werden. Auch dann werden Menschen geistlich heimatlos. Wenn wir also weniger Messen feiern, ist die Frage, wie wir sie feiern, noch viel wichtiger. 
Dies gilt insbesondere für die Gottesdienste, die auch von jenen besucht werden, die nicht zu den rund vier Prozent der Katholiken gehören, die regelmäßig in die Kirche kommen. Ich denke an anlassbezogene Gottesdienste, beispielsweise zur Einschulung, zu Beerdigungen, Hochzeiten, aber auch zu Weihnachten. Ich denke an kontextuelle Gottesdienste zu aktuellen Anlässen. Sie sind eine wunderbare Gelegenheit, Menschen einen Raum für die Erfahrung göttlicher Gegenwart zu ermöglichen. Ansätze dafür sind da, aber ich sehe noch nicht, dass wir das schon hinreichend nutzen. 
 

Wenn die Kirche ein Wirtschaftsunternehmen wäre, würden jetzt alle Alarmglocken läuten und es müssten Konzepte her, wie der Abwärtstrend möglichst schnell gestoppt werden kann.  Wie gehen Sie vor?


Es kann doch nicht unser Ziel sein, jahrzehntelange gesellschaftliche Trends umzudrehen. Wir leben heute, wir leben in einer sich verändernden sehr säkularen Gesellschaft, in einer neuen Situation – und wir wollen gemeinsam mit allen Christinnen und Christen danach fragen, wie wir heute und morgen das Evangelium wirksam verkünden können. Die Veränderung der Kirche ist nicht ein zu erleidender Prozess, sondern sie ist zu gestalten. Voller Hoffnung und Vertrauen. Zu allen Zeiten war die Kirche in solchen Neugestaltungsprozessen. Und die Lebendigkeit der milieugestützten Kirche, wie sie vielleicht als ein vergoldetes Bild aus den 60er-, 70er- oder 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bei manchem im Gedächtnis ist, ist eine Form, wie sie in diesen Jahren angemessen war – heute braucht es neue Antworten.


Wohin geht denn der Weg?


Wir wissen nicht, wie sich die Kirche der Zukunft im Einzelnen zeigen wird. Mehr als Zukunftsvorhersagen interessiert mich aber, was sich im heute schon an vielen Orten zeigt. Für mich liegt ein Schwerpunkt auf den Menschen, mit denen wir unterwegs sind. Wir werden Orte und Räume schaffen und öffnen, in denen Menschen ermutigt werden, ihre Gaben und Energien ins Spiel zu bringen. Ich denke an die „dennoch-konferenz“ im letzten Jahr. Wir brauchen mehr solcher Gelegenheiten, bei denen sich Menschen vergewissern, sich austauschen und dann gestärkt in ihre Lebenswelt gehen, um das Evangelium zu bezeugen. 
 

Vielleicht noch einmal etwas konkreter: Haben Sie ein Bild von der Kirche der Zukunft? 


Wir waren vor einiger Zeit mit dem Priesterrat in den Niederlanden, da kann man im gewissen Sinn ein bisschen Übermorgen besichtigen, weil die holländische Kirche diesen Veränderungsprozess schon hinter sich hat. Dort gibt es oft nur noch an wenigen Orten Gemeinden und Gemeinschaften – eben Zentren des Glaubenslebens. Dass dies auch bei uns so kommt, ist nicht unsere Idee. Zweifellos werden auch bei uns Zentren entstehen, aber es geht darum, Gemeinschaften zu fördern, die in ihren eigenen Kontexten mit hoher Selbstständigkeit und Autonomie ihr Glaubensding machen. Das können Gemeinschaften sein, die heutigen Gemeinden und Gruppierungen ähnlich sind, die aber auch ganz anders aussehen können. Das geht nicht ohne hauptberufliche Begleitung. Wir brauchen hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich daran freuen, wenn sie andere Menschen unterstützen und sie stark machen. Wenn wir auf die Kirche von morgen blicken, muss man auch sagen, dass das Institutionelle, wie wir es heute kennen, abnehmen wird. Und sicher wird es auch weniger Orte geben, an denen wir Eucharistie feiern. Wie ich schon gesagt habe, ist es dann es umso wichtiger, dass dort und an möglichst vielen Orten eine Gotteserfahrung möglich wird. Das wird dann gelingen, wenn wir miteinander und mit den Menschen in unserem Umfeld Beziehung und Begegnung suchen und Leben. Dann wir das Evangelium leuchten. Und vielleicht noch dies: Die Kirche von Morgen wird ökumenischer sein, stärker die Zusammenarbeit mit evangelischen Christen und anderen christlichen Gemeinschaften suchen. Im Verständnis der Menschen vor Ort haben sich die Unterschiede ohnehin abgeschliffen – das bestätigt die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung eindrücklich.


Sind volkskirchliche Elemente wie Fronleichnamsprozessionen, Martinsumzüge oder Treffen von kirchlichen Verbänden dann nur noch Relikte der Vergangenheit?


Das würde ich so nicht sagen. Die Kirche hat einen unglaublichen Reichtum an Erfahrungen sehr unterschiedlicher Art. Für einige ist eine Wallfahrt oder ein Rosenkranzgebet etwas Großartiges, andere können damit nichts anfangen. Die einen mögen Gospelmusik, die anderen Gregorianik. Die Vielfalt ist nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern ein Zeichen der vielen Begabungen, die Menschen haben. Was uns an Traditionen wertvoll ist, können wir lebendig halten. Wenn es nicht lebendig ist, müssen wir es neu erfinden. Wie können unsere Traditionen kreativ neugestaltet werden und so das Leben der Menschen berühren? Wo das gelingt, werden unsere Traditionen attraktiv.
Das kirchliche Leben ist an einer bestimmten Stelle zurückgegangen, nämlich dort, wo es eine Vereinsstruktur angenommen hat. Ich habe nichts gegen funktionierende und lebendige Gruppen in der Gemeinde. Es gibt starke Kolpingfamilien und Frauenverbände, von denen viele allerdings langsam überaltern. Alter ist dabei für mich zunächst einmal kein Kriterium von Schwäche. Aber wir müssen fragen, ob noch die nötige Leidenschaft für das Evangelium da ist – Energie, Welt und Gesellschaft zu gestalten. Wenn die da ist, werden solche Gemeinschaften lebendig sein und auch wachsen. Wenn nicht, werden sie sterben. Dann war nicht alles Mist, was in der Vergangenheit war, sondern es hat seine gute Zeit gehabt. Sicher werden wir künftig stärker danach fragen, welche neuen Formen gelebten Glaubens es gibt, und wie wir uns stärker mitten in unseren Lebenskontexten engagieren. Die Frage lautet: Wie können wir möglichst vielen Menschen die Frohe Botschaft erfahrbar und erlebbar machen. Und wie können wir Neues herzlich begrüßen. Es wird keine Uniformität geben, sondern viele unterschiedliche Entwicklungen an verschiedenen Orten. 


Im Bistum läuft gerade der Prozess „Zukunftsräume“, bei dem es darum geht, die Zahl der Immobilien den pastoralen Möglichkeiten und Notwendigkeiten anzupassen, am Ende soll sich der Gebäudebestand halbiert haben. Wenn man die aktuelle Entwicklung betrachtet, könnte die Zahl der Kirchen, Pfarrheime und -häuser noch weiter sinken...


Das könnte in der Tat passieren. Wir wollen die Menschen im Bistum in ihren Gemeinden auf ihren Weg in die Zukunft begleiten. Vor Ort wird die Frage erörtert, wie die Pastoral der Zukunft aussehen kann. Wir überlegen gemeinsam, was im Lebensraum einer Gemeinde mit ihren Menschen, mit ihren Herausforderungen und Chancen künftig möglich sein wird. Am Ende steht dann auch die Frage, welche Immobilien dafür nötig sind. Wir werden deutlich weniger – dann brauchen wir auch deutlich weniger Gebäude. Und es zeigt sich, dass viele Verantwortliche das auch wissen und wollen, wie schmerzlich es zuweilen auch ist.
Wenn die Zahl der Aktiven weiter abnimmt, was bedeutet das für die Gremienarbeit?
Wir haben ja zwei Arten von Gremien, die Kirchenvorstände und die Pfarrgemeinderäte. Bei den Kirchenvorständen, die staatskirchenrechtlich verankert sind, finden sich zur Zeit durchaus noch Kandidaten, obwohl schon seit Jahrzehnten gesagt wird, dass es bald schwierig werden wird, sie zu besetzen. Aber in den nächsten Jahren werden an nicht wenigen Orten auch hier neue Lösungen gefunden werden müssen. Anders sieht es bei den Pfarrgemeinderäten aus, wo mancherorts Ort bereits deutliche Auflösungsprozesse zu beobachten sind. Im Bistum bestehen wir daher nicht mehr auf den klassischen Pfarrgemeinderäten mit einer festgelegten Zahl an Mitgliedern, sondern es haben sich neue Modelle entwickelt, wie pastorale Mitverantwortung gelingen kann. Dabei spielen die „Teams gemeinsamer Verantwortung“ eine wichtige Rolle. Auch hier wird die Entwicklung weitergehen. Am Ende geht es immer um die Frage, die auch Papst Franziskus aufgeworfen hat: Wie kann „Synodalität“ vor Ort gelebt werden?  Wie können gemeinsam und partizipativ Entscheidungen getroffen werden?
 

Wenn sich die Dynamik des Abwärtstrends weiter beschleunigt, hat das auch spürbare finanzielle Auswirkungen. Bereitet sich die Bistumsleitung auch darauf vor?


Selbstverständlich! Dabei steht nicht die Frage des Sparens an erster Stelle, sondern die Priorisierung. Was dient der Zukunft? Was dient unserer Sendung? Wir werden fragen, wie wir uns fokussieren, und wir fragen, was der Kern ist, mit dem wir unterwegs sind. Wir werden schmerzliche Entscheidungen treffen. Denn wir gestalten heute viele gute Dinge und wir entwickeln vieles weiter. Aber das werden wir auf Dauer nicht weiter tun können, wenn finanzielle Mittel geringer werden – das muss man ehrlicher Weise sagen. 

 
Die Kirche äußert sich heute zu vielen Dingen. Was muss künftig ihre Kernbotschaft sein? 
 

Das ist immer dieselbe und zugleich in jeder Zeit neu: Es ist die eine Botschaft, dass wir einen Gott haben, der uns trägt, der Begegnung zwischen den Menschen stiftet und heilsam wirkt. Und der uns solidarisch macht mit allen anderen Menschen.

Interview: Matthias Bode