Renaissance-Friedhof in Halle an der Saale
Zwischen Verfall und Perspektive
Wer den Stadtgottesacker in Halle besucht, macht auch einen Gang durch die Geschichte. Der Renaissance-Friedhof ist vollständig von Arkaden umgeben. Sie und auch viele Gräber müssen dringend restauriert werden – auch wenn erste Schritte bereits unternommen wurden.
Wer den am Rande des historischen Zentrums der Saalestadt Halle gelegenen Martinsberg „erklimmt“, wird sich nach wenigen Schritten einer fünf bis sechs Meter hohen Mauer gegenübersehen. Sie war Teil der alten Stadtbefestigung. Seit dem 16. Jahrhundert schützt sie aber nicht mehr die Stadt, sondern einen Ort, wie es ihn in Deutschland kein zweites Mal gibt, einen Renaissance-Friedhof, einen Camposanto, was übersetzt heiliges Feld heißt. Zwar gibt es auch im thüringischen Buttstädt und in Eisleben vergleichbare Anlagen, doch ist der denkmalgeschützte Camposanto von Halle der größte und aufgrund seiner architektonischen Geschlossenheit der kulturgeschichtlich bedeutendste.
Camposanto, das wird manche an Pisa erinnern. Mit dem berühmten, Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Friedhof der Toskana-Stadt hat der in Halle das Charakteristikum gemeinsam, dass er auf rechteckigem Grundriss vollständig von Arkaden, in denen die Gräber liegen, eingefasst ist. Diese öffnen sich zum Friedhofsinneren mit 94 Schwibbögen, die von Säulen getragen werden und von einem durchgehenden Satteldach gedeckt sind. Zur Außenwelt hin sind die Arkaden komplett geschlossen.
Ein Ort, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint
Durch ein schlichtes, eher schmales Tor betritt man den Camposanto. Der erste Eindruck: eine grüne Wildnis, ganz anders als in Pisa, denn auch auf der Innenfläche wurden – und werden wieder – Bestattungen vorgenommen. Um die Grabstätten wuchern Büsche und Sträucher. Ein aus der Zeit gefallener, geheimnisvoller Ort. Diesen Eindruck verstärkt der Zustand vieler Arkaden. Im Gegensatz zum Camposanto in Pisa wartet auf die Restaurateure in Halle noch jede Menge Arbeit. Aber viel ist seit der Wende schon passiert.
Die Anlage des Friedhofs außerhalb der Stadt verdankt sich der Schließung der innerstädtischen Kirchhöfe sowie der Tatsache, dass Albrecht von Brandenburg Halle zu seiner Residenz machte und zahlreiche Bauvorhaben initiierte, auch einen Stadtgottesacker. So wird der Friedhof bis heute genannt. Geweiht wurde er 1529, die Arkadenreihen kamen ab 1557 hinzu. Baumeister war Nickel Hoffmann, der auch die Pläne für Rathäuser in Hof und Schweinfurt sowie Schloss Hartenfels in Torgau gezeichnet hat. Er gilt als derjenige, der die Renaissance in Mitteldeutschland einführte. Sein Bildnis als alter, bärtiger Mann findet man im Toreingang.
Letzte Ruhestätte für zahlreiche Prominente
Schnell wurde der Stadtgottesacker zum Prominentenfriedhof. Heute ist der Spaziergang ein Bummel durch die reiche Stadtgeschichte. Natürlich haben die Eltern von Georg Friedrich Händel hier eine Arkadengruft ebenso wie August Hermann Francke, der ein Waisenhaus und mehrere Schulen gründete, um die Armut zu bekämpfen. Das Areal der 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen ist bis heute ein wichtiger Bildungsstandort, weit über Halle hinaus. Beide Gruftanlagen waren die einzigen, die zu DDR-Zeiten restauriert worden sind. Auch Friedrich Hoffmann, Mediziner und Erfinder bekannter Arzneimittel, und der Naturforscher Johann Reinhold Forster haben im 18. Jahrhundert auf dem Stadtgottesacker ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Die Zeichen der Vergangenheit sind diesem Friedhof mehr als anderen eingeschrieben, die Botschaften des Aufbruchs aber auch. Nachdem die Anlage 1945 durch Bombentreffer teilzerstört worden war und die Verantwortlichen in der DDR-Zeit Wichtigeres im Sinn hatten, standen die Freunde des Stadtgotttesackers nach der Wende vor einer Herkulesaufgabe. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint der heutige Zustand in einem anderen Licht. Zwar verlangen vor allem die Barock-Epitaphe nach Restaurierungsmaßnahmen. Und viele Gitterschranken an den Arkaden scheinen eher auf Kostenerwägungen als auf ästhetischen Überlegungen zu beruhen. Doch auch die Zeichen der Veränderung sind sichtbar. Angeführt von der 1990 gegründeten Bauhütte Stadtgottesacker und unterstützt durch zahlreiche Spenden und Fördermittel machte man sich daran, die Bausubstanz zu sichern.
Die Bauhütte suchte schnell den Kontakt zur Kunst-Hochschule Burg Giebichenstein in Halle. Studierende sind seitdem damit beschäftigt, Schwibbögen zu rekonstruieren bzw. neu zu gestalten. So findet man Familienwappen und Porträts, etwa von Christian Thomasius, einem Vorreiter der Aufklärung, christliche Symbole und Verse aus Altem und Neuem Testament – auch bereits in deutscher Sprache. Dazu immer wieder Rankornamente, Fantasiewesen und Memento mori-Darstellungen. Jeder Grabbogen wurde individuell gestaltet: Repräsentation über den Tod hinaus.
Inspiration für Künstler von Heute
Zeitgenössische Reliefs wie ein Skelett, das ein Handy hält, sind hinzugekommen. Die heutigen Künstler und Künstlerinnen haben sich von ganz unterschiedlichen Themen beeinflussen lassen. Dazu gehören die Geschichte des Stadtgottesackers, seine Zerstörung und der Wiederaufbau, aber auch Heilpflanzen und Orthopädie, die vier Elemente und die Lebensalter, die anhand weiblicher Figuren dargestellt werden. Sichtbar Neues schaffen, das sich aber in das Architekturensemble einfügen muss, lautet die Aufgabenstellung bis heute.
Auch sonst hat sich einiges verändert. Lag in den Anfängen des Camposanto in jedem Arkadenbogen eine Familiengrabstätte, so sind einige mittlerweile zu Kolumbarien umgestaltet worden. Seit 2001 finden wieder – allerdings ausschließlich – Urnen-Beisetzungen statt, auch auf dem Gräberfeld im Zentrum der Anlage. Alle Grabstätten in den Arkaden, in denen auch ein Lapidarium eingerichtet worden ist, sind im städtischen Besitz. Nutzungsrechte dafür werden nicht mehr vergeben. Schon seit 1825 besitzt der Stadtgottesacker auch eine Kapelle. Dafür wurden seinerzeit zwei Arkaden umgebaut.
In der Kombination von Denkmal, in dessen Erhalt noch investiert werden muss, und beliebter Begräbnisstätte – wenn man das so sagen darf – scheint der Stadtgottesacker in Halle eine Perspektive für die Zukunft gefunden zu haben. Als Sehenswürdigkeit ist er jedenfalls in der Stadt ausgeschildert.
Ulrich Traub