Bethlehem-Haus in Riga in Lettland

In zwölf Schritten aus der Abhängigkeit

Image

Jahrzehnte wurde die katholische Kirche in Lettland von den Sowjets unterdrückt. Nach dem Fall des Kommunismus und der Selbstständigkeit des Landes blühte die Kirche auf und rief eine Reihe beachtenswerter Projekte ins Leben. Eines davon: das Bethlehem-Haus in Riga.


Oskars ist am längsten von allen Bewohnern des Bethlehem-Hauses trocken. Jeder Tag wird auf einer Schiefertafel vermerkt.

„Oskars 371, Zane 304, Aivis 343, Reinis 272.“ Die Zahlen hinter den lettischen Vornamen auf der Schiefertafel im Speisesaal des Bethlehem-Hauses gehen täglich nach oben. Sie geben an, wie viele Tage die Bewohner bis heute alkohol- oder drogenfrei gelebt haben. Es sind Zahlen, die Mut machen sollen. Über ein Jahr hat Oskars durchgehalten – und das erfüllt ihn sichtlich mit Stolz. Nicht nur, dass er seine Drogensucht überwunden hat, er ist seitdem auch nicht mehr kriminell geworden – was bis dahin immer wieder vorkam.

Viele sind durch die Maschen gefallen

Das Bethlehem-Haus gehört der katholischen Kirche. Seit mehr als zehn Jahren ist in dem 200 Jahre alten Gebäude ein Rehabilitationszentrum untergebracht. Geführt wird es von Dana Anskaite, einer resoluten Frau in den Fünfzigern, die ursprünglich aus dem Finanzwesen kommt, aber dann ihre Lebensaufgabe entdeckt hat. „Das ist mein Dienst“, sagt sie. Ihr Dienst, das ist die Betreuung von Männern (und wenigen Frauen), die es aus der Bahn geworfen hat. Viele schon vor Jahrzehnten, als der Kommunismus zusammengebrochen ist und quasi über Nacht der Kapitalismus Einzug gehalten hat. „Sie waren daran gewöhnt, dass alles vom Staat organisiert wurde. Als das nicht mehr der Fall war, sind sie durch die Maschen gefallen“, sagt Dana Anskaite.

Der Absturz traf keineswegs nur Menschen aus der Unterschicht, sondern machte auch vor gut ausgebildeten und früher gut inte­grierten Männer und Frauen nicht halt. Und so finden sich unter den Bewohnern des Hauses ein ehemaliger Chordirigent, ein Rechtsanwalt, eine Hotelfachfrau. Fast alle sprechen Englisch, einige auch Deutsch. An Bildung mangelt es nicht, aber an innerer Stabilität.

Die Bewohner durchlaufen ein strenges Programm, das in seinen Ursprüngen vor fast 100 Jahren von den Anonymen Alkoholikern entwickelt wurde. In zwölf Schritten sollen sie ihre Sucht überwinden. Es beginnt damit, die eigene Abhängigkeit anzuerkennen und endet damit, seine Erfahrungen an andere weiterzugeben und ihnen bei der Überwindung der Sucht zu helfen. Mittlerweile haben rund 330 Männer und Frauen das Programm durchlaufen.
 


Dana Anskaite leitet das vom Bonifatiutswerk geförderte Bethlehem-Haus.

Der Abschied von der Sucht dauert mindestens ein Jahr, oft länger. Der Tagesablauf der Männer ist fest geregelt: Mitarbeit in Haus und Hof, gemeinsame Gebetszeiten, mehrmals wöchentlich Therapie-Sitzungen und einmal in der Woche ein Gespräch mit dem Haus-Seelsorger, Kaplan Mariusz. Viele halten das nicht durch, die Abbrecherquote ist mit 80 bis 90 Prozent hoch, was bei dieser Art Therapie allerdings üblich ist. Wer Alkohol oder Drogen konsumiert und dabei erwischt wird, muss das Haus sofort verlassen. Doch eine Verfehlung oder der Abbruch des Programms bedeuten nicht unbedingt das endgültige Aus, es gibt für jeden eine zweite Chance. So wie für Daniel. Vor einigen Jahren hat er die Einrichtung vorzeitig verlassen – und stürzte gleich darauf wieder ab. Jetzt lebt er mit zwei weiteren Männern seit eineinhalb Monaten in einer Dependance des Bethlehem-Hauses in Olaine, gut zwanzig Kilometer südlich von Riga. Dort, auf einer ehemaligen Kolchose, startet für die Abhängigen das Rehabilitationsprogramm. Es gibt kein Internet, die Zufahrtsstraße ist nicht asphaltiert, die nächste Einkaufsmöglichkeit kilometerweit entfernt. Hühner, Schafe, Ziegen, Landwirtschaft mit Kartoffelanbau, Tomaten und Möhren bestimmen das Bild.

Die Abgeschiedenheit soll zum harten Schnitt mit der Vergangenheit und den Drogen beitragen. Daniel hat sich darauf eingelassen. „Dieses Mal will ich standhaft bleiben“, sagt er. Doch er weiß, dass noch ein langer Weg vor ihm liegt.

Einen weiten Weg gegangen ist bereits Diana. Sie lebt mit ihrer dreijährigen Tochter im „Haus auf halben Weg“, einem Gebäudeteil des Bethlehem-Haues. Dort lernen die Bewohner, Stück für Stück wieder für sich selbst zu sorgen, bevor sie das Haus wieder verlassen. Diana ist seit zwei Jahren und zwei Monaten clean – und überglücklich: Erstmals konnte die 33-Jährige jetzt den Geburtstag ihrer Tochter feiern. Bis vor kurzem hatte das Mädchen aufgrund der Drogensucht der Mutter im Heim gelebt.
 


Die Bewohner unterstützen sich bei ihrem Weg aus der Sucht.

Hausleiterin Dana Anskaite ist eine überzeugte Katholikin und legt Wert darauf, dass es im Bethlehem-Haus religiöse Angebote gibt. „Aber wir wollen niemanden missionieren, zu uns kann jeder kommen, auch wenn er kein Christ ist“, sagt sie. Abgewiesen wird niemand. In der Regel melden sich die Abhängigen telefonisch und fragen, ob und wann sie Aufnahme finden können. „Es kommt aber auch vor, dass Menschen vor unserer Tür stehen und um Einlass bitten. Wenn sie nüchtern sind und sie einen ernsthaften Therapie-Wunsch haben, nehmen wir auch die auf“, berichtet Anskaite.  

„Auf die Fürsorge Gottes vertrauen“

Lange hat das Bethlehem-Haus keine öffentliche Förderung erhalten. „Die ersten fünf Jahre haben wir von der Barmherzigkeit Gottes gelebt“, erklärt Anskaite. Mittlerweile werden zehn Plätze durch die Stadt Riga gefördert. Dass das Bethlehem-Haus über die Runden kommt, dafür sorgt auch das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken. Das „Hilfswerk für den Glauben“ hat in den letzten sechs Jahren 115 000 Euro an die Einrichtung überwiesen, vor allem für Renovierungsarbeiten an dem denkmalgeschützten Gebäude.

Nun steht das Haus angesichts von explodierenden Energiekosten vor neuen Herausforderungen. Doch Dana Anskaite lässt sich nicht unterkriegen, sie sagt: „Wir müssen auf die Fürsorge Gottes vertrauen“.

Matthias Bode