Diaspora-Erfahrungen in Finnland
Eine Messe unter Polarlichtern

Fotos: Katharina Semrau
Es ist ungefähr fünf oder sechs Jahre her, da stand ich im Garten eines guten Freundes. Wir kennen uns schon sehr lange: Wir wuchsen im gleichen Dorf im Bistum Magdeburg auf, waren im gleichen Kindergarten, hatten zusammen Erstkommunion und waren jahrelang ein eingespieltes Ministrantenteam. Mittlerweile wohne ich im Bistum Erfurt, doch das änderte nichts an unserer Freundschaft. An diesem Abend beobachteten wir die Sonne, die gerade am Horizont unterging. Von einer fernen Baumreihe aus erhoben sich einige Vögel in die Luft und schwebten geräuschlos durch den orangefarbenen Himmel. Es war ein warmer, entspannter Sommerabend, die Stimmung gelöst. Umso mehr überraschte mich der weitere Verlauf unseres Gesprächs.
Mein Freund war vor Kurzem Vater geworden und ich fragte ihn, wann denn die Taufe sei. Die Antwort verblüffte mich: Grundsätzlich solle sein Sohn schon irgendwann getauft werden. Doch derzeit sei in unserer alten Gemeinde kaum Leben. Für die Kinder und die Jugendlichen werde zu wenig angeboten. So mache Glauben wenig Spaß. Sein Kind solle daher erstmal nicht getauft werden. Sollte sich die Situation ändern, werde er es sich überlegen.
Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Meiner Einschätzung aus der Ferne nach hatten wir doch eine aktive Gemeinde. Klar, nicht mehr so wie früher, aber doch noch wesentlich lebendiger als anderswo. Und selbst wenn es gerade nicht so gut läuft, kann Resignation ja keine Lösung sein.
Doch wir merken wohl alle die Veränderungen in unseren Kirchengemeinden: Pfarreien werden zusammengelegt, es gibt weniger Priester und Gemeindereferentinnen, Gottesdienste finden seltener und mit weniger Menschen statt, manch Tradition können wir nicht aufrechterhalten. Gerade in der Diaspora ist das umso spürbarer. Wer kann also verdenken, wenn jemand daraus Konsequenzen zieht?
In einem Land (fast) ohne Katholiken
Dieses Gespräch fiel mir vor einer Weile wieder ein. Denn auch in meiner neuen Gemeinde stehen Veränderungen an, die Zukunft ist ungewiss. Allerdings bin ich überzeugt: Trotz der schwierigen Lage wird weiterhin katholisches Gemeindeleben möglich sein. Und während wir beim Umgang mit den neuen Begebenheiten oft auf die Zeiten schauen, in denen die Gottesdienste voller und mehr Menschen katholisch waren, wollte ich etwas anderes ausprobieren. Ich würde ein Land erkunden, in dem noch weniger Menschen der katholischen Kirche angehören als bei uns. Doch wohin sollte es gehen?
Mir kam der Zufall zu Hilfe. Ich wollte schon immer Polarlichter sehen. Im März hatte ich Zeit und die Chancen auf Aurora-Sichtungen waren groß. Da ich noch nie in Finnland war, recherchierte ich und fand heraus, dass es nicht nur prädestiniert für die Beobachtung von Nordlichtern ist, sondern dass es dort auch kaum Katholiken gibt. Seit der Reformation ist Skandinavien protestantisch, katholisches Leben existierte jahrhundertelang so gut wie nicht. Dennoch, das ergab meine weitere Suche, gibt es lebendige Gemeinden.
Das wollte ich erleben! Eine Messe am Polarkreis und wenn ich die Kirche verlasse, tanzen am Himmel die Polarlichter – so stellte ich es mir vor. Schnell hatte ich die E-Mail-Adresse von Pater Matthew ausgemacht, dem zuständigen Pfarrer für meine Urlaubsregion. Ich schickte ihm die Daten, wann ich wo sein würde, und fragte nach einer Messe. Die schnelle Antwort war erfreulich und ernüchternd zugleich: Es findet eine katholische Messe in einer orthodoxen Kirche statt, doch der Ort liegt 200 Kilometer von meiner Unterkunft entfernt.
Ich sprach mit meinen beiden Mitreisenden und schnell war klar, dass wir die Erfahrung machen wollten: Zweieinhalb Stunden Fahrt durch winterlich verschneite Landschaft für einen finnischen Gottesdienst, von dem wir wahrscheinlich kein Wort verstehen würden. Wir waren gespannt.
Erste Eindrücke und faszinierende Erlebnisse
Den Anfang unserer Finnland-Reise verbrachten wir in Helsinki. Die Metropole spiegelt die konfessionelle Situation im Land wider: Das Zentrum wird vom protestantischen Dom beherrscht, einen kurzen Spaziergang entfernt steht die aus roten Ziegelsteinen erbaute Uspenski-Kathedrale, das größte orthodoxe Gotteshaus der westlichen Welt. Die katholische Kirche liegt versteckt etwas außerhalb. Das Gebäude ist nicht viel größer als die meisten unserer Dorfkirchen, doch es ist Bischofssitz und damit Kathedrale. Während vor den anderen bedeutenden Gotteshäusern viel Trubel herrschte, verlief sich kaum ein Tourist in diese Gegend, einige Menschen waren ins Gebet vertieft.
Mit dem Zug fuhren wir am dritten Tag Richtung Norden und Polarkreis. Die traumhaft winterliche Landschaft ließ uns bereits die Weite und Schönheit des Landes erahnen, wie wir sie in den nächsten Tagen erleben durften: Auf Schneeschuhen wanderten wir durch unberührte Landschaften und überquerten zugefrorene Seen. Wir machten eine Huskyschlittenfahrt und eine finnische Familie stellte uns ihre Rentierfarm vor. Nördlich des Polarkreises wanderten wir durch arktische Moore, nachdem wir zuvor zugefrorene Wasserfälle bestaunt hatten. Ein Besuch im berühmten Weihnachtsmanndorf durfte nicht fehlen, obwohl es uns aufgrund des im Vordergrund stehenden Kommerzes eher ernüchterte.
Über all dem stand das nächtliche Wunder der Polarlichter. Bereits als wir am ersten Abend unsere Unterkunft mitten in der Natur erreichten, begann die Aurora über uns am Firmament zu tanzen. Mit wechselnder Intensität leuchtete der Himmel in grünen Farben, das Nordlicht überstrahlte oftmals die Sterne. Trotz teilweise -31 °C waren wir fasziniert und erfuhren die Schönheit der Schöpfung auf bisher unbekannte Weise.
Weite Anreise und ein freundliches Willkommen
Schließlich wurde es Sonntag. Die Messe und eine lange Autofahrt standen auf dem Programm. Trotz verschneiter Straßen kamen wir pünktlich in der Stadt Kemi an. Hier leben rund 22 000 Menschen an einem der nördlichsten Punkte der Ostsee an der Grenze zu Schweden. Vor der kleinen, schönen orthodoxen Kirche erwartete uns bereits Pater Matthew. Der recht junge Priester erzählte mir, dass er aus Malta stamme und somit wie die meisten katholischen Priester nicht aus Finnland sei. Die Diaspora-Situation, so berichtete er weiter, sei schon herausfordernd. Von seinem Dienstsitz Oulu aus betreue er vier Kirchen, in denen er jeweils ein Mal im Monat Messe halte. Die Fahrtzeiten seien stets lang, die Gemeinden klein. Und doch bemerkte ich keine Frustration oder gar Resignation. Vielmehr spürte ich Freude, Optimismus und Tatendrang. Dies mag vielleicht der Persönlichkeit Pater Matthews geschuldet sein, doch ich sah auch die Herzlichkeit und Freude der anderen Gemeindemitglieder, die im Verlauf unseres Gesprächs zur Messe erschienen.
In der Kirche selbst erwartete uns eine Überraschung: Der kleine Raum war fast überfüllt, schnell holten Gemeindemitglieder mehr Stühle. Ich zählte über 40 Gottesdienstbesucher und mir fiel auf, wie vielfältig die Gemeinschaft war. Später erfuhr ich, dass die Menschen aus Finnland, Burma, Vietnam, den Philippinen, Polen und Italien stammten. Viele davon leben in Finnland, manche waren Touristen.
Messe auf Finnisch und Englisch
Schließlich begann der Gottesdienst und wer bereits eine katholische Messe im Ausland besucht hat, kennt vielleicht das Gefühl, das sich sofort in mir einstellte: das Gefühl zu Hause zu sein. Die Rituale und die Abläufe in katholischen Messen sind trotz individueller Gepflogenheiten rund um den Erdball gleich. Auch ohne ein Wort zu verstehen, weiß man um die Bedeutung der gerade vollzogenen Handlungen – die Schönheit der Weltkirche. Zudem machten es uns die Gemeindemitglieder leicht: Wir bekamen Ablaufpläne, die alle Gebete und Antworttexte auf Finnisch sowie die Lieder enthielten. Ob wir mit unserem finnischen Gesang zur Feierlichkeit der Messe beigetragen haben, sei dahingestellt. Interessant und schön war es für uns allemal. Da zudem spontan einige englische Lieder angestimmt wurden und Pater Matthew die Eröffnung, Predigt und Verabschiedung zusätzlich auf Englisch hielt, fühlten wir uns angenommen. Die orthodoxe Kirche bot dazu mit ihrer für uns teils ungewohnten Gestaltung einen schönen Rahmen und zeigte, dass christlicher Glaube viele Facetten und Ausdrucksformen haben kann.
Nach der Messe luden uns die Gemeindemitglieder zum Kirchenkaffee ein. Ich plauderte mit Elizabeth, einer älteren Dame, die berichtete, wie sie vor über 50 Jahren aus Kanada nach Finnland übersiedelte. Sie und ihr Mann, der konvertierte, seien die einzigen Katholiken in der Region gewesen. Zum nächstgelegenen Gottesdienst hätten sie fünf bis sechs Stunden gebraucht. Durch Engagement und Zuwanderung gäbe es nun aber eine lebendige Gemeinde und regelmäßige Messen vor Ort. Im weiteren Gespräch und im Miteinander der Gemeindemitglieder und Touristen bemerkte ich wieder die Merkmale, die mir nicht nur, aber besonders in kleineren Gemeinden auffallen: Zugewandtheit, echtes Interesse am Menschen, ein Blick auf die Bedürfnisse des anderen und eine große Herzlichkeit.
Zukunft mit lebendigen Perspektiven
Als wir schließlich das Kirchengebäude verließen, zeigten sich nicht wie von mir erträumt Polarlichter am Himmel. Dazu war es noch zu hell. Dafür spazierten wir zum Sonnenuntergang über die zugefrorene Ostsee.
Die Begegnungen in der finnischen Diaspora zeigten mir, wie wir auch bei uns lebendige Gemeinden erhalten und weiterhin in die Welt hinaus wirken können: Indem wir uns im Vertrauen auf Gottes Wirken engagieren und schauen, welche liebgewonnen Traditionen wir beibehalten und welche neuen Entwicklungen und Wege wir zulassen können. Und vor allem, indem wir unsere Kirchen und unsere Herzen öffnen für die Menschen, die zu uns kommen.
Wieder zu Hause angekommen, ging es für mich direkt zu einer Familienfeier in meinen alten Heimatort. Seit einigen Jahren übernehmen hier Gemeindemitglieder ehrenamtliche Tätigkeiten, gestalten Andachten, treffen Entscheidungen, feiern Gottesdienste. Die Gemeinde ist lebendig, es gibt Perspektiven. Dazu passt, dass ich vor einigen Wochen einen Anruf erhielt: Mein Freund war am Telefon: Er fragte mich, ob ich Pate sein könnte. Er möchte seinen Sohn diesen Sommer taufen lassen.
Von Sebastian Skalitz