Anstoß 29/2024

Briefe

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„Den Brief haben wir in einer alten Jacke von Omi gefunden“, sagt meine Mutter bei einem Besuch und reicht ihn mir. Vor über 20 Jahren habe ich ihn meiner Oma und meinem Opa geschrieben. Das Abitur in der Tasche, auf dem Weg in die weite Welt.

Porträt Christina Innemann
Christina Innemann
Katholische Polizeiseelsorgerin in Mecklenburg-Vorpommern

Ich lese meine eigene Handschrift und werde erinnert: An das, was ich erlebt habe. Wie liebevoll ich über meine Großeltern gedacht habe. An die Wünsche, die ich für mein Leben hatte – und mein Heimweh. „Sie muss ihn jahrelang in dieser Jacke getragen haben“, schmunzelt meine Mutter.

Ich schlucke. Viel hat sich seitdem verändert. Inzwischen ist meine Oma schwer dement, verwitwet und in einer Pflegeeinrichtung. Mein Vater, sein Bruder und andere Verwandte kümmern sich liebevoll um sie. Der Brief ist eine Art Zeugnis. Wie eine Erinnerung daran, wie es einmal war. Ich glaube, er ist sogar mehr: Eine Verpflichtung, für heute etwas davon mitzunehmen.

Für mich sind persönliche Briefe etwas ganz Besonderes. Wenn sie aufbewahrt werden, können Menschen Jahre später etwas daraus lernen. Indem sie zum Beispiel an Geschehenes erinnert werden, Zukunftsvisionen der Vorfahren lesen und eigene Schlüsse für die Gegenwart daraus ziehen. Auch in der Bibel gibt es Passagen, die aus Briefen bestehen. In der Regel wurden sie von den Aposteln selbst verfasst oder in ihrem Namen geschrieben. Sie richten sich an die ersten christlichen Gemeinden oder Einzelpersonen. In ihnen wird berichtet, was sich ereignet hat. Sie erinnern an die enge Verbindung zwischen Schreiber und Adressaten und äußern Aufträge oder Ideen für die Zukunft.

Der Brief meiner Oma erinnert mich an zwei Dinge: Daran, dass es Zeit wird für einen lang aufgeschobenen Besuch bei ihr. Und daran, mir einige der Briefe der Bibel heute anzuschauen.

Christina Innemann