Anstoß 02/2024

Umgekehrte Sehnsucht

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„Wenn du Sehnsucht nach etwas bekommst, ist das keine Abwesenheit, es ist Anwesenheit, es ist ein Besuch, Menschen, Länder kommen von weit her und leisten dir ein bisschen Gesellschaft.“ So die erstaunliche Antwort Don Rafaniellos im Roman „Montedidio“ von Erri De Luca an den Ich-Erzähler auf die Frage, ob Don Rafaniello seine Heimat nicht vermissen würde.

Angela Degenhardt
Angela Degenhardt
Gemeindereferentin Pastoralregion Burgenlandkreis (Naumburg-Weißenfels-Zeitz)

Die Sätze beschäftigen mich, seit sie kürzlich auf einem Adventskalenderblatt aufgetaucht sind. Sie stellen auf den Kopf, wie wir sonst denken. Wenn wir etwas vermissen, dann ja eben, weil es nicht da ist! Es umgekehrt zu sehen, klingt ein bisschen verrückt: Indem ich daran denke, ist bei mir, was ich vermisse, wonach ich mich sehne. Es ist mir dann präsent, also gegenwärtig, aber natürlich ohne, dass ich es greifen kann. Oder, auf einen Menschen bezogen, ohne, dass ich von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden kann.
„Wenn du Sehnsucht nach etwas bekommst, ist das keine Abwesenheit, es ist Anwesenheit.“ Was, wenn ich diese Aussage auch auf so etwas, wie Frieden ummünzen würde? Ist Frieden schon da, wenn ich merke, dass er fehlt und ihn ersehne? Vielleicht fängt der Frieden dann an. Denn, wer ihn ersehnt, wird sich auch darum mühen. Und so ist er ganz klein zusammen mit der Sehnsucht schon da. Der Weg zum großen Frieden zwischen Ländern und Völkern wird leider trotzdem noch sehr weit bleiben.
Oder, wenn einer die Sehnsucht nach Gott hat, wenn eine Gott in ihrem Leben vermisst – ist dann Gott schon bei ihnen? Im Prinzip ja, natürlich. „Wenn du Sehnsucht nach etwas bekommst, ist das keine Abwesenheit, es ist Anwesenheit.“ Auf wen oder was, wenn nicht auf Gott, sollte das zutreffen! Seit diesem Adventskalenderblatt ist für mich eine Klangfacette dazugekommen, wenn wir sagen, dass Gott immer da und nah ist.
Probieren Sie im neuen Jahr doch einmal aus, auch andersherum zu denken: dass das, wonach wir uns sehnen, nicht nur abwesend, sondern auch anwesend ist. Vielleicht finden Sie für sich heraus, wo(mit) das „funktioniert“. Für das, was trotzdem offen bleibt, wünsche ich Ihnen das Vertrauen, dass Gott es zu füllen vermag.

Angela Degenhardt