Hedwigshaus Frankfurt/Oder
Kein Ort für Eigenbrötler
Foto: Dorothee Wanzek
Die Freunde, Verwandten und Mitschüler, mit denen Adrianna Rosa-Zarzycka ihre Kindheit verbrachte, waren katholisch. So gut wie jeder in ihrer Heimatstadt Koszalin nahe der polnischen Ostseeküste gehörte ihrer Erinnerung nach zur katholischen Kirche. In Frankfurt (Oder), wo sie seit zehn Jahren wohnt, bilden Katholiken dagegen eine verschwindende Minderheit. Die junge Frau blieb ihrer Kirche trotzdem eng verbunden. „Mein Glaube ist weiter und tiefer geworden“, sagt sie. Das habe sie auch der Freundschaft mit Christen anderer Konfessionen zu verdanken, Lutheraner und Neuapostolische, Baptisten und Orthodoxe. Sie ist dankbar für Vieles, das sie von ihnen gelernt hat. „Unsere Vielfalt ist solch ein Reichtum für uns Christen!“, ist sie überzeugt.
Bei ihren evangelischen Freunden zum Beispiel beeindruckt sie, wie vertraut sie mit der Bibel sind. „Ich habe von ihnen gelernt, tiefer in Gottes Wort einzutauchen und im Gottesdienst mehr auf die Lesungen zu achten“, sagt Adrianna Rosa-Zarzycka. Früher habe sie in der Kirchenbank öfter abgeschaltet und konnte dann am Ende der heiligen Messe kaum noch sagen, worum es eigentlich ging.
Während ihres Studiums lebte sie fast fünf Jahre lang im Hedwigshaus, einer zur Jahrtausendwende gegründeten Wohngemeinschaft des ökumenischen Europazentrums in Frankfurt. Ziel der Initiatoren war es, in einem ehemaligen städtischen Kindergarten mitten in der deutsch-polnischen Doppelstadt Frankfurt-Słubice ein christliches Zentrum zu eröffnen, das die Gesellschaft der Grenzstadt prägt: Junge Menschen aus verschiedenen Kulturen und Glaubensrichtungen sollten hier im Alltag erproben, einander trotz ihrer Unterschiedlichkeit respektvoll zu begegnen und die Wirklichkeit auch aus dem fremden Blickwinkel des anderen zu betrachten. Sie sollten „Brückenbauer“ sein, wie es Hedwig von Schlesien, die Patronin des Hauses, vor über 800 Jahren auf ihre Weise war.
„Gutes gibt´s nicht nur bei uns“
Mehrere Studentengenerationen haben die WG inzwischen durchlaufen. Die gemütliche, hier und da schon ein wenig abgenutzte Einrichtung unterscheidet sich auf den ersten Blick vor allem durch die christlichen Symbole von anderen WGs: kleine und größere Kreuze in mehreren Räumen des Hauses, christliche Veranstaltungshinweise am Schwarzen Brett, eine Hedwigs-Darstellung auf einem Regal im gemeinsamen Wohnzimmer.
Wer in eines der 15 WG-Zimmer einziehen möchte, muss kein Christ sein, er sollte aber grundlegende christliche Werte mittragen und die christlichen Symbole und Rituale im Haus akzeptieren. In einem Vorstellungsgepräch klären WG-Bewohner und Mitglieder des Trägervereins das vorab mit den Interessenten.
Wer im Hedwigshaus leben will, sollte zudem Lust haben auf Begegnungen und neue Erfahrungen, findet Adrianna Rosa-Zarzycka. Er sollte die herzliche Gastfreundschaft mittragen, die kennzeichnend für das Haus ist. Die Kulturwissenschaftlerin erinnert sich an Feiern, gemeinsame Mahlzeiten und an lange Gespräche zu zweit oder in größerer Runde am großen Holztisch im Wohnzimmer. Oft ging es dabei auch um den Glauben. Mit einem Baptisten etwa, der später ihr Trauzeuge wurde, sprach sie oft über die Taufe. Sie berichtete von der Kleinkind-Taufe, die in ihrer Kirche üblich ist, er erzählte von dem bewussten Weg, den er als Heranwachsender zur Taufe ging. Adriannas Erkenntnis aus diesen Gesprächen: „Was ich von meiner Konfession her kenne, ist nicht das einzige Gute.“ Noch eindrücklicher als die Erzählungen der Freunde war es, sie sonntags zu den Gottesdiensten oder Feiern ihrer Glaubensgemeinschaft zu begleiten. Katholische, evangelische und neuapostolische Gottesdienste konnten die WG-Mitbewohner in Frankfurt miterleben, zur nächsten baptistischen Gemeinde mussten sie bis nach Berlin fahren.
Lernfeld auch für Seelsorger
Gestritten wird im Hedwigshaus natürlich auch. Die in jeder Familie gängigen Klassiker „Wer bringt den Müll raus?“ oder „Was heißt sauber geputzt?“ sind hier wegen der so unterschiedlichen kulturellen Prägungen zuweilen noch eine Spur brisanter. Ein Student zum Beispiel ignorierte anfangs partout die WG-Regel, dass jeder nach der Mahlzeit sein schmutziges Geschirr abwäscht. Erst nach einiger Zeit verstanden die anderen, dass er ganz selbstverständlich erwartet hatte, dass seine Mitbewohnerinnen dies für ihn erledigen würden. In seiner Heimat war Abwasch schließlich ausschließlich Mädchensache.
Auch inner- und zwischenkirchliche Konflikte machen vor der Tür des Hedwigshauses keinesfalls Halt, auch bei den Veranstaltungen der Studierendengemeinden, die hier regelmäßig stattfinden und im Austausch mit den Seelsorgern verschiedener Konfession und Nationalität. Adrianna Rosa-Zarzycka erinnert sich besonders an Kontroversen über Homosexualität und geschlechtliche Identität. „Die evangelische Kirche ist bei diesen Themen ziemlich fortschrittlich, die orthodoxe Kirche und die katholische Kirche in Polen sind dagegen eher konservativ“, sagt sie. Auch unter den Hausbewohnern gab es verschiedene Sichtweisen, es sei aber gelungen, versöhnt zu diskutieren. Im Hedwigshaus könne man lernen, unterschiedliche Positionen zu vertreten und trotzdem verbunden zu bleiben.
Eine Mitbewohnerin durchlief gerade eine Geschlechtsumwandlung und ließ sie an ihrem inneren Weg teilhaben. Adrianna half das, ihre eigene Meinung zu schärfen. Die Studentin war in ihrer Kirche engagiert und dachte nicht daran auszutreten. Ihr Glaube war ihr wichtig bei der Suche nach ihrer Rolle und Aufgabe im Leben und nach den richtigen Entscheidungen. „Manche Seelsorger haben im Kontakt mit ihr gelernt, wie wichtig es ist, dass die Kirche offen ist für Menschen, die um ihre geschlechtliche Identität ringen“, hat Adrianna beobachtet. Andere hätten das nicht so gesehen. Die Hausgemeinschaft schütze ihre Bewohner, wenn es nötig sei. Seelsorger, die ihre Trans-Freundin verletzten, bekamen daraufhin deutlich zu verstehen, dass sie im Haus nicht mehr gern gesehen seien.
Sehr unterschiedlich reagierten die Seelsorger auch, als eine Mitbewohnerin von der katholischen zur evangelischen Kirche konvertierte. Es gab diejenigen – auch unter den Katholiken – , die sich mit ihr freuten, weil sie eine persönliche Beziehung zu Gott gefunden hatte und einen für sie stimmigen Platz in einer christlichen Gemeinschaft. Es gab aber auch die Enttäuschten, die sich von ihr zurückzogen.
Grundsätzlich hat es Adrianna Rosa-Zarzycka sehr geschätzt, dass Seelsorger im Hedwigshaus ein- und ausgingen. Mehrere Bewohner hätten sich während oder nach ihrer Zeit im Hedwigshaus taufen lassen, erinnert sie sich. Dazu habe auch die intensive geistliche Begleiung beigetragen. Die Seelsorger motivierten jeden, Brückenbauer zwischen Nationen, Überzeugungen und Glaubensrichtungen zu bleiben – auch über die Studienzeit hinaus.