Norbert Lammert beim Hedwigsempfang des Bistums Görlitz

Kirche hat Potenzial zum Spalten und Versöhnen

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Norbert Lammert hält eine Rede
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Foto: Matthias Wehnert

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Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert war Festredner beim diesjährigen Hedwigsempfang des Bistums Görlitz.

Als „ganz besonders“ bezeichnete der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt den Hedwigsempfang Mitte Oktober, jährt sich doch der Geburtstag der Bistumsheiligen zum 850. Mal. Als Jubiläumsredner war der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert zu Gast.

„Ich freue mich über die Einladung nach Görlitz, das ich übrigens als sehr lebendig in Erinnerung habe“, beginnt Norbert Lammert seine Rede mit einem Augenzwinkern. Dabei bezieht er sich auf die musikalische Einleitung der Veranstaltung mit Musik aus der Oper „Die tote Stadt“. Lachen erfüllt das gut besetzte Gerhard-Hauptmann-Theater. Danach wird es ernster. „Politik, Kultur und Religion: Was hält eine Gesellschaft zusammen?“ lautet der Titel des Empfangs. Lammert, der von 2005 bis 2017 dem Deutschen Bundestag als Präsident vorstand, richtet seinen Blick dabei besonders auf Entwicklungen der Gegenwart: Weniger Homogenität, mehr Vielfalt und zugleich eine wachsende Betonung der eigenen Bedürfnisse gegenüber denen der Gemeinschaft – da stellt er sich und dem Publikum die Frage: Benötigt die Gesellschaft ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten? Er selbst bejaht und erntet dabei Zustimmung: „In Görlitz haben wir noch diese gemeinsamen Identitäten, die uns zusammenschweißen, egal ob als Görlitzer, als Ostdeutsche oder auch ganz ökumenisch als Christen“, sagt beispielsweise Ulf Hüttig. Der Rechtsanwalt, der sich im evangelischen Gemeindekirchenrat engagiert, ergänzt: „Besonders wir Christen, die seit langem eine Minderheit hier sind, spüren diesen Zusammenhalt – selbst bei unterschiedlichen Auffassungen.“ Die Basis der Gemeinsamkeiten würde die Integration neuer Bürger erleichtern, so würde das Zusammenleben in Vielfalt noch gut funktionieren. Annemarie Franke, Kultursekretärin des Kulturraums Oberlausitz-Niederschlesien, sieht das ähnlich, betont die Bedeutung der Kultur als verbindendes Element, äußert aber auch Befürchtungen: „Wenn immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadt leben und Gemeinsamkeiten weniger werden, wird es schwierig, eine gelungene Integration zu leisten.“

Auch das Verhältnis zwischen Religion und Politik kommt in Lammerts Rede nicht zu kurz. „Beide erheben Gestaltungsansprüche in der Gesellschaft“, sagt der 75-Jährige und erklärt, warum Kirche und Staat in Deutschland kaum zu trennen seien: Schon das Grundgesetz sei „eine Brücke zwischen Himmel und Erde“, beginnt es doch mit den Worten „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (…) hat sich das Deutsche Volk (…) dieses Grundgesetz gegeben“. Kirche habe ebenso wie der politische Wettbewerb unendliches Potenzial – zum Konflikt ebenso wie zur Versöhnung, die heilige Hedwig habe ein lebendiges Beispiel dafür gegeben. Dies ist für Lammert brandaktuell: „In Westeuropa trügt uns der Schein einer mehr und mehr säkularen Welt, denn noch nie waren so viele Menschen weltweit in irgendeiner Weise religiös gebunden wie heute und keine Religionsgemeinschaft wird mehr verfolgt als die Christen.“ Als „Aufruf an die Religion, diesen Beitrag zur Versöhnung wieder mehr zu leisten“ versteht Besucherin Sabine Blaffner Lammerts Worte und lobt: „Er hat vieles gut erklärt und mich sehr zum Nachdenken angeregt.“

Sie und die anderen Anwesenden haben gleich im Anschluss an die Rede die Möglichkeit, die eigenen Standpunkte beim Sektempfang zu teilen. Ein lautes Stimmengewirr erfüllt das Foyer, Meinungen und Gedanken werden lebhaft ausgetauscht und es wird deutlich: Görlitz ist eine lebendige Stadt.

Michael Burkner