Psychische Belastungen bei Jugendlichen nehmen zu
Selbstoptimierung im Kinderzimmer
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Herr Leide, wie machen sich psychische Belastungen und Erkrankungen an Schulen bemerkbar?
Zunächst dadurch, dass diese Themen im Schulalltag eine immer größere Rolle spielen und uns in vielen konkreten Situationen begegnen. „Mental health“ zu stärken, ist daher eine Herausforderung für Eltern und Schule. Alle bewegt die Frage: „Wie können wir unsere Kinder besser stärken und sie in ihren Problemen unterstützen?“ Es gibt bei uns pädagogische Konferenzen, in denen wir fragen: Wie gehts euch? Dabei werden Schüler und Eltern einbezogen. Ziel ist, Gewaltpotential oder andere Probleme frühzeitig zu erkennen. Aktuell fällt auf, dass 2023 rund ein Drittel der Schüler psychoemotional belastet war. Die Zahl hat in den letzten drei bis vier Jahren deutlich zugenommen. Bei Projektwochen sind psychoemotionale Themen stark nachgefragt, von Essstörung bis zur Frage: „Was stärkt mich?“ Die Kurse sind ganz schnell voll.
Welche konkreten Probleme haben die Schüler?
Das ist ein breites Spektrum: Es gibt vieles, was alterstypisch ist und zur Entwicklung gehört, aber darüber hinaus wachsende Zukunftsängste angesichts Krieg und Klima, Verunsicherungen, weil man „nur gut“ ist und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, Ängste, die zu selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen bis hin zu Suizidgedanken führen. Auch familiäre Trennungssituationen zählen zu den großen Belastungen.
Spielt dabei Selbstoptimierung eine Rolle, die heute viele Menschen unter Druck setzt?
Ich meine, ja. Ich erlebe derzeit stark den Zwang, alles für sich mitzunehmen, das Optimale herauszuholen, nichts versäumen zu wollen. Das führt dazu, dass Dinge in ihrer Bedeutung nicht mehr gewichtet werden können und junge Menschen von einer Verpflichtung zur nächsten hetzen.
Was sind Ursachen dafür?
Da spielt vieles zusammen. Ein Katalysator war auf jeden Fall die Corona-Krise. Belastungen waren schon vorher da, aber Corona hat sie zu Tage gebracht. Zu unseren aktuellen Tagesmeldungen gehört das Thema Krieg. Die Klimakatastrophe ist allgegenwärtig für Jugendliche. Wir Erwachsenen sagen ihnen: Ihr seid unsere Zukunft. Junge Menschen haben aber Ängste vor ihrer Zukunft.Ich zähle auch die Digitalisierung mit als Ursache, ein stillschweigender Turboantrieb für alle. Mich beschäftigt schon lange ein Gedanke des Jesuiten Leo O’Donovan. Als Präsident der Georgetown University in Washington sprach er bereits vor 20 Jahren vom Funktionalismus und Ökonomisierungszwang in unserem Leben, der sich immer weiter verstärkt. Er meinte, eine Antwort auf Verzweckung und Beschleunigung des Lebens sei Entschleunigung, das Sabbat-Gebot. Wir sollten Räume schaffen, in denen Unterbrechung, Stille möglich ist, wenn wir das Menschliche schützen wollen.
Kann das Schülern helfen?
Ja. Ich erlebe, dass Jugendliche geradezu eine Sehnsucht nach Stille haben. Sie brauchen Anleitung dazu, aber sie erleben dann, dass sich damit ein Raum eröffnet, durch den Kreativität, Selbsterfahrung, Meditation oder Gebet möglich werden. Dazu gehören auch Rituale, deren sinnstiftende Bedeutung sich im persönlichen Erleben erschließt. Wir haben da als Kirche einen Gegenentwurf für die Gesellschaft.
Welche Möglichkeiten hat eine katholische Schule, die eine andere nicht hat?
Ich finde, es ist eine unserer Aufgaben, solche Rückzugsorte, Möglichkeiten des zwecklosen Verweilens, also Entschleunigung anzubieten: Wir haben eine Kapelle. Als der Gaza-Krieg losbrach, haben wir dort eine Klagemauer aus Backsteinen aufgebaut, in die junge Menschen Gedanken oder Gebete auf Zetteln stecken konnten. So erleben sie: Natürlich ist reden wichtig, es kann aber unsere Seele stärken, noch anders mit unseren Sorgen umzugehen. Wir bieten an unserer Schule Besinnungstage an, in denen sie die Erfahrung der Stille machen. Ich erlebe, dass sich Jugendliche im Tagebuchschreiben verlieren und tatsächlich darauf freuen, ihr Handy abzugeben. All solche Chancen sollten wir zur Stärkung unserer Kinder und Jugendlichen nutzen.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Immer, wenn Beziehungsqualitäten gestärkt werden. Ein Beispiel: Ein Klassenrat kann lehren, einander wirklich zuzuhören, sich ausreden zu lassen ohne zu bewerten. Wenn das gelingt, finden belastete Schüler Halt und beginnen, an sich selbst zu wachsen, weil sie diesen tragfähigen Boden haben. Keine Frage: dort, wo Jugendliche tatsächlich belastet sind, brauchen sie psychologische und professionelle Unterstützung. Mir ist es jedoch wichtig, genau hinzuschauen, damit die Angebote nicht ein Zuviel des Guten werden. Menschen werden sehr gestärkt, wenn sie Beziehungsqualität erleben und ihnen in diesem Halt etwas zugetraut wird: So können sie wachsen und Selbstwirksamkeit erfahren. Dafür sollten wir präventiv und im Alltag sorgen. Es geht auch darum, jungen Menschen ein Wertegerüst, das Bedeutung für ihr Leben hat, zu vermitteln. Werte helfen, Orientierung für das eigene Leben und Sinn zu finden. Ich denke, Jugendliche hierbei auf ihrem eigenen Weg zu begleiten, gehört zu den würdevollsten Aufgaben, die wir als Eltern oder Lehrer haben.
Was können Eltern, die selbst Christen sind, ihren Kindern mitgeben?
Sie können ihnen Geborgenheit und unbedingte Liebe vermitteln und das Zutrauen, dass Gott alle Wege mitgeht. Dafür muss niemand perfekt sein.
Social Media macht das nicht so einfach. Dort zeigen sich wenige ungeschminkt und ehrlich.
Genau. Da werden schon Kinder angeleitet zum illusorischen Perfektionismus. Deswegen müssen wir ihnen helfen, einen fehlerfreundlichen Lebensstil und Gelassenheit zu entwickeln, da sind Eltern und Schule besonders herausgefordert.
Veranstaltungstipp
Vortrag von Dr. Boglarka Hadinger für Eltern und andere Interessierte: „Halt und Resilienz stärken – eine Herausforderung für alle“ am 15. Mai um 19 Uhr in der Aula des St. Benno-Gymnasiums (Pillnitzer Str. 39, Dresden)