Zwei Geistliche leben mitten in Berlin-Kreuzberg
„Die Straße ist unser Kloster“
Fotos: Luise Bindner
Pater Benno geht über die Straße und tauscht Frühlingsgrün gegen Altbaumauern, die von Graffiti bedeckt sind. Trotz Vandalismus versucht er offen zu sein für das, was die Kreuzberger Wände sagen wollen. Vor der Wrangelstraße 49 bleibt er stehen und liest die Frage auf der Wand: „Wer ist dein Gott?“ Er fühlt sich herausgefordert. Für ihn habe Gott immer etwas mit Beziehung zu tun. „Lieber mit Gott reden als über Gott“, ist seine Devise. Daher würde Pater Benno der Wand mit „Du“ antworten. Jemand anderes hat bereits „Karell“ geschrieben.
Vor drei Jahren zog der Benediktiner Benno Rehländer (45) aus dem Ettaler Kloster nach Berlin-Kreuzberg. Er trägt jetzt Jeans, Pulli und Turnschuhe statt seines Habits. Er sieht darin keinen Widerspruch. Schließlich sollte auch der Habit einst die Kleidung der einfachen Leute auf dem Feld nachahmen. Er lebt jetzt in einer Wohngemeinschaft mit Bruder Bernd Ruffing, einem Steyler Missionar. Sie haben die leere Pfarrwohnung in Kreuzberg bezogen. Ohne Casting, einfach so. „Das war das perfekte Match“, sagt Bruder Bernd (50) heute.
In Kreuzberg ist das Leben anders, als in Berlin-Charlottenburg, wo Bruder Bernd zuvor lebte. Schon am ersten Tag, Gründonnerstag, merkte er das, als die Kassiererin im Rewe fragt, wie es ihm gehe. Nach seiner kurzen Antwort betont sie: „Ja, aber wie geht es Ihnen wirklich?“
Bruder Bernd und Pater Benno leben jetzt in der Wrangelstraße. Hier reihen sich die Wohnhäuser eng aneinander. Sie gehen an der Moschee vorbei, wo Pater Benno als „katholischer Imam“ vorgestellt wurde. Weiter hinten sehen sie den Bioladen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite den türkischen Obst- und Gemüsehandel. An diesem warmen Frühlingssonntag schlendern viele Menschen Richtung Park. Nur wer zur rechten Zeit seinen Blick vom bunten Gewusel abwendet, bemerkt die Kirche, die sich eng an die Wohnhäuser reiht und dabei so anders ist. Der gepflasterte Hof, die sauberen Mauern, der österlich geschmückte Brunnen gleichen einer Filmkulisse.
Religion im Kiez – kaum wahrnehmbar, aber da
Die katholische Marienliebfrauenkirche ist nicht die einzige christliche Kirche der Wrangelstraße. Am Anfang und Ende gibt es je noch eine evangelische Kirche. „Religion ist hier, auch wenn man es vielleicht gar nicht wahrnimmt“, sagt Pater Benno. „Ich würde es schwierig finden, wenn die Kirche wirklich nur hinter diesem Zaun anfangen würde. Das geht nicht. Mir ist wichtig, immer wieder unterwegs zu sein, damit ich wahrnehme, dass die Kirche mitten in der Welt ist.“ Sie spüren das in Kreuzberg immer wieder. Da ist zum Beispiel der Mann vorm Supermarkt: Vollbart, langes Haar, verletzt und dreckig. Pater Benno erinnert er an alte Christusdarstellungen. „Da ist mir nochmal bewusst geworden, dass dieser Jesus hier auf meiner Straße sitzt.“ In Friedrichshain-Kreuzberg sind nur sechs Prozent der Einwohner katholisch, neun Prozent evangelisch. Die Zahl der muslimischen Gläubigen ist in der Statistik Berlin-Brandenburg nicht aufgeführt. Das war im volkskatholischen Bayern während seiner Zeit im Kloster Ettal anders, sagt Pater Benno. „Jeder Ort ist heiliger Boden, auch die Straße.“
Die Wohnung der beiden Geistlichen ist Teil des Kirchengebäudes. Auf dem Weg dorthin treffen sie einen Mann, der im Winter jede Nacht im Pfarrsaal übernachtet. Jetzt, wo es wärmer wird, schläft er wieder unter seiner Brücke. Er lobt noch den Chor, der kürzlich in der Kirche gesungen hat. „Das ist ja sonst nicht so meine Musik, aber das war -“ der Mann küsst seine Fingerkuppen.
Die Marienliebfrauengemeinde bietet im Winter Notübernachtungen an. 15 Männer finden dort jede Nacht einen Schlafplatz. Eine andere Pfarrei verteilt Supermarkt-Gutscheine an Bedürftige. Und die Suppenküche der Mutter-Theresa-Schwestern hilft auch. Dort lernte Bruder Bernd einmal einen Zeitungsverkäufer kennen, der erzählte, dass es anstrengend ist, nicht gesehen zu werden. Viele Menschen ignorieren ihn, wenn er ihnen die Straßenzeitung anbietet. Als wäre er nicht da.
Fremde Schicksale auch ins eigene Wohnzimmer lassen
Auch die eigene Wohnung und Gemeinschaft sollte von Anfang an ein Stück weit durchlässiger sein. „Also dass Menschen, die es gerade brauchen, leichter und unkompliziert zu uns kommen können“, sagt Bruder Bernd. „Dadurch kommen Lebensrealitäten näher an mich heran. Das verändert mein Denken, mein Beten und auch mein Leben.“ Sie brachten zwei Monate lang einen Menschen unter, der gegen seine Abschiebung aus Deutschland kämpfte. Woher eine Person kommt, fragen sie nicht. Im Herbst wohnte ein anderer Mann vier Monate bei ihnen. Seine Habseligkeiten hat er noch immer im Flur untergestellt. Große, weiße Plastikbeutel stehen dort. Auch er hat keine Wohnung und verbrachte die Winternächte im Pfarrsaal. „Er ist jeden Tag zur Arbeit in mein Krankenhaus gegangen“, sagt Bruder Bernd, der selbst Krankenpfleger ist. „Und das finde ich so krass: Man sieht den Menschen gar nicht an, was sie für Schicksale haben.“ Auch Menschen, die einen Job haben und sich gesellschaftlich intensiv einbringen, können wohnungslos sein.
Die Wohnung der beiden Geistlichen ist ruhig. Dennoch sind auch hier die Eindrücke der Straße präsent: Das Fenster im Flur erinnert mit seinen weißen Schriftzügen an die Graffiti der Häuserwände. Auf das Fensterglas schreiben Gäste „Willkommen“ in einer Sprache, die sie sprechen. In der Küche hängen die 99 Namen Allahs auf einem Wandteppich. Die Räume sind groß und hell und bieten viel Platz für Gäste.
Der wichtigste Ort ist der Küchentisch: groß, oval, aus Holz. Hier sprechen Pater Benno und Bruder Bernd miteinander, planen, essen, atmen. Und sie machen das, was Bruder Bernd „in Gemeinschaft hören“ nennt. „Wenn uns etwas Neues anfragt, dann überlegen wir, was sind Vor- und Nachteile, haben wir gerade innerliche Kapazitäten, um zum Beispiel jemanden aufzunehmen, dessen Sprache wir nicht sprechen? Und wenn einer eine Pause braucht, dann verhandeln wir das und hören gemeinsam, was gerade für uns dran ist.“
Sie haben gelernt, genau wahrzunehmen – sich selbst, den Ort und die Menschen. „Ich verstehe mich hier nicht als den, der den Leuten die Botschaft vom Heil vermitteln möchte, indem er große Predigten an der Straßenecke hält“, sagt Pater Benno. Viel wichtiger ist ihnen, hier präsent zu sein.
Beten im Park – aber nicht, um gesehen zu werden
Sie beten im Görlitzer Park, einem Hotspot für Straftaten und Drogenhandel. Auf einem Hügel treffen sie sich in kleiner Gruppe für die Laudes, ein klassisches Morgengebet. Sie tun es nicht, um gesehen zu werden. „Wir sind einfach hier. Und so wie andere hier grillen, so beten wir hier halt“, sagt Pater Benno.
Durch ihre Präsenz erleben sie den Ort auch noch anders. Auch heute ist der Park voll mit Menschen, die picknicken, Instrumente spielen oder grillen. Jung und Alt genießt den Frühling hier. „Das ist faszinierend, wenn man mitbekommt, wie der Park jetzt wieder zum Leben erweckt wird“, sagt Pater Benno und hält an. „Das ist eben nicht nur ein kriminalitätsbelasteter Ort, sondern auch ein Begegnungsort.“ Dennoch: Im Herbst 2023 kündigte der Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) an, den Park im Folgejahr einzuzäunen und nachts abzuschließen. Die Kritik der Kreuzberger: Der Zaun lösche Kriminalität nicht aus, wird sie lediglich verlagern. Zumal sich bereits jetzt drei Mal so viele Straftaten nicht im Park, sondern in seiner Umgebung feststellen ließen. Auch Pater Benno und Bruder Bernd waren unter den Demonstrierenden.
Am Ausgang des Parks klebt der Sternsinger-Segen. Pater Benno hatte die Idee, als er mit den Sternsingern den Park durchquerte. „Wir können nicht nur Häuser und Wohnungen segnen, sondern auch Parks“, sagt der Priester. Passanten bedankten sich dafür.
Die beiden Geistlichen sind Teil von Kreuzberg. Sie sind keine Lichtfiguren, aber auch keine Unbekannten. Der Verkäufer der Straßenzeitung erkennt und grüßt sie. Sie ignorieren ihn nicht, grüßen zurück. Die Körperhaltung des Verkäufers verändert sich augenblicklich. „Na wo ward ihr denn?“, fragt er. Bruder Bernd und Pater Benno zucken mit den Schultern: „Na hier.“
Termin
Sich für Spiritualität im Kiez öffnen – das können die Teilnehmer bei den „Exerzitien auf der Straße“. Ein ökumenisches Team, unter anderem mit Bruder Bernd Ruffing, lädt dazu vom 17. bis 25. August in die katholische Gemeinde St. Marien Liebfrauen ein. Infos: strassenexerzitien.de / Anmeldung: ruffingsvd@gmail.com