Umgang mit Sterbenden
Lasst uns übers Sterben sprechen

Foto: Johanna Marin
Wenn sie auf Station die Visite macht, denken ihre Patienten oft, dass sie Pflegeschülerin ist. „Wo bleibt denn der Arzt?“, wird sie dann gefragt. Dabei ist die 27-jährige Katholikin aus Berlin seit einem Jahr Assistenzärztin im evangelischen Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar. In der Onkologie nicht immer ein leichter Job – viele ihrer Patienten befinden sich auf den letzten Metern des eigenen Lebens. Auch in der Notaufnahme, wo sie regelmäßig aushilft, begegnet ihr der Tod immer wieder.
„Zum Leben gehört das Sterben“, weiß die Ärztin. Vor allem älteren Patienten sei das oft auch bewusst. „Na ja, ich hab mein Leben doch gelebt“, höre sie dann manchmal, und nicht selten komme es vor, dass alte Menschen sich das Ende herbeisehnen. „Da sind es dann eher die Angehörigen, die von der Nachricht, dass der Großvater oder die Großmutter bald sterben wird, überrascht sind.“ Überhaupt falle der Abschied Angehörigen oft schwerer. Der Sterbende merkt, dass er zum Beispiel nicht mal mehr die eigene Teetasse halten kann. Die Familie könne das zwar auch sehen, spüre aber nicht, wie schwach der eigene Körper sich anfühlt. „Die Patienten können sich gedanklich darauf vorbereiten. Für die Angehörigen kommt der Sterbeprozess eher aus dem Nichts – die müssen das sehr deutlich gesagt kriegen.“
Offener Dialog mit dem Patienten
Wenn sie den Patienten schlechte Nachrichten überbringen muss, hilft ihr die Frage nach dem Patientenwissen: Bevor sie eine fatale Diagnose ausspricht, fragt sie den Patienten, was er selbst bisher schon weiß. „Die Menschen haben im Verlauf der Diagnostik teilweise schon einiges mitbekommen“, sagt Elisabeth Runge. „Es hilft mir im Gespräch, zu wissen, auf welchem Stand sie sind und wie ich mit ihnen sprechen kann.“ Manchmal kommen im Gespräch auch Fragen auf, die sie selbst nicht auf dem Schirm hatte. Vor allem in der Onkologie helfe ihr dieser Teil des Gesprächs. „Es wird einfacher für mich, wenn der Patient selbst schon das Wort ‚Krebs‘ gesagt hat.“
„Ich habe das Gefühl, dass das Verständnis für das, was passieren wird – das Sterben – im Verlauf der Krankheit wächst“, sagt Elisabeth Runge. „Je mehr Zeit verstreicht, desto fassbarer wird der Tod für den Patienten.“ Manche akzeptieren schnell, dass sie sterben werden. Andere setzen sich Ziele: „Ich möchte Weihnachten noch erleben.“ „Mein Enkel wird im Sommer eingeschult.“ Wieder andere wollen um jeden Preis weiterleben. Das sei für sie besonders schwer mit anzusehen, sagt die Medizinerin. „Eigentlich möchte ich mit dem Patienten arbeiten – nicht gegen ihn“, sagt sie. Doch es sei schwierig, die notwendigen medizinischen Schritte abzusprechen, wenn jemand den bevorstehenden Tod nicht wahrhaben will. Am schlimmsten ist für sie jedoch, wenn ein Mensch in der Notaufnahme stirbt. „Wenn wir alles gegeben haben, und die Person es nicht schafft – das sind die Momente, wo es mich am meisten trifft.“ Während der Reanimation bleibt keine Zeit, sich wirklich auf den Menschen einzulassen. Dabei wünscht sie ihren Patienten Ruhe, wenn sie sterben.
„Ich glaube, dass wir uns insgesamt zu wenig Gedanken über den eigenen Tod machen“, glaubt Elisabeth Runge. „Kritisch Kranke sind oft sehr plötzlich nicht mehr ansprechbar – und dann sollen Angehörige oder Ärzte eine Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen treffen.“ Sie wünscht sich, dass Menschen für solche Fälle aufschreiben, was ihnen im Leben wichtig ist. Sitzen sie gern im Garten und schauen die Blumen an? Wollen sie aktiv und unterwegs sein? Das könne Ärzten helfen, standartisierte Patientenverfügungen auf den konkreten Fall anzuwenden.
Den Wunsch des Sterbenden kennen
Elisabeth Runge erlebt oft, dass Angehörige Angst haben, zu sagen, wie es weitergeht. Sie wollen nicht entscheiden, ob die eigene Mutter lebt oder stirbt. Diese Angst versucht sie den Angehörigen zu nehmen: „Sie sollen nicht eine eigene Entscheidung treffen, sondern den Wunsch ihrer Mutter aussprechen!“ Ein entscheidender Unterschied, so die Ärztin – und der Grund, wieso Menschen sich schon im Leben über ihren Tod unterhalten sollten. „Für den Patienten ist das wichtig, weil wir dann nach seinem Willen handeln können – selbst, wenn er nicht mehr reden kann“, sagt Elisabeth Runge. Und für die Angehörigen sei es wichtig, weil sie dann sicherer wären, dass der Sterbende sich seinen Tod so gewünscht hätte.
Elisabeth Runge kann die Abschiede von ihren Patienten, die sie teilweise über Monate hinweg begleitet, meistens gut verarbeiten. Dabei, so vermutet sie, hilft ihr auch ihr Glaube daran, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Als Ärztin ist sie auch für die sogenannte Leichenschau verantwortlich, bei der ein Mediziner den Tod nochmals bestätigen muss. Wenn es soweit ist, haben die Pfleger die verstorbene Person oft schon gewaschen, eine Kerze aufgestellt, eine Engelsfigur neben das Bett gelegt und das Fenster geöffnet. Bevor sie den Raum wieder verlässt, spricht Elisabeth Runge ein kleines Gebet für ihre Patienten. Außerdem findet im Haus alle drei Monate ein Trauerritual für das Personal statt. In einem Gottesdienst werden die Namen all derer vorgelesen, die in dieser Zeit verstorben sind. „Das ist total schön und hilft uns, das als Team zu verarbeiten“, sagt Elisabeth Runge.
Das Sterben als Erleichterung
Wenn einen Patienten die Kräfte immer mehr verlassen, kann das Sterben ihn auch erleichtern, hat sie erlebt. „Wir hatten mal eine Patientin, die lange gekämpft hat und große Schmerzen hatte“, erinnert sich Elisabeth Runge. Kurz bevor sie nicht mehr konnte, ließ sie ihre Großfamilie zusammenrufen – auch die Enkelkinder waren dabei. Als alle da waren, wurde sie sediert – ein Schritt, der im Sterbeprozess Schmerzen und Angst nehmen soll. Die Ärzte haben versucht, der Familie Raum zu geben, erzählt sie, damit sie sich in Ruhe voneinander verabschieden können. „Als ich noch mal rein musste, haben alle miteinander geweint. Nur die Patientin nicht – sie hat gelächelt.“