Ist Krankheit eine Strafe Gottes?

Den Blick für Heilung weiten

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Krankenbesuch einer Krankenhausseelsorgerin
Nachweis

Foto: imago/epd

Schwere Erkrankungen erschüttern den Menschen. Er braucht dann Hilfe, auch geistig-geistliche. Doch wie ist eine schwere Krankheit im Glauben zu deuten? Als Strafe gar? Auf keinen Fall, sagt Theologin Regina Radlbeck-Ossmann.

Professorin Radlbeck-Ossmann, Krankheit als Strafe zu sehen – das dürfte doch hierzulande, wo viele Menschen keiner Konfession angehören, eigentlich nicht so verbreitet sein?

Die Erfahrung sagt etwas anderes. Wir Menschen haben das Bedürfnis, nach Ursachen von Entwicklungen und Erscheinungen zu fragen. Das gehört zu unserem Denken, völlig unabhängig davon, zu welcher Religion wir gehören oder in welcher Zeit wir leben. Unser Gehirn fragt: Warum ich? Warum diese Krankheit? Warum jetzt? Das ist eine Überlebensstrategie, die uns die Evolution mitgegeben hat. Kulturell bedingt gehen wir zudem davon aus, dass Gesundheit das Normale ist. Werden wir schwer krank, sind wir erschüttert und fühlen uns bedroht.

Und finden die Antwort: Ich werde bestraft, weil ich was falsch gemacht habe?

Dem menschlichen Gehirn scheint das Bedürfnis eingeschrieben zu sein, im Miteinander auf Ausgewogenheit zu achten. Das scheint für Menschen, angefangen im alten China oder Ägypten, bis heute zu gelten. Menschen fühlen sich gut, wenn sie mehr geben als nehmen. Im Leben ergeben sich aber auch Situationen, aus denen ein elementares Schuldempfinden erwächst. Klinikseelsorger berichten, dass auch Menschen ohne religiöse Sozialisation ein solches Schuldempfinden haben. In schwerer Krankheit erleben sich Menschen als geschwächt und gefährdet und geben sich die Antwort: Ich muss wohl einiges falsch gemacht haben. Deshalb bestraft mich jetzt die Natur oder gar ein Gott – eine bestechende Antwort auf bohrende Fragen. Hat ein Kranker sie gefunden, wird er ruhiger. Auch wenn die Antwort falsch sein mag, stillt sie seine innere Aufruhr und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Zugleich aber wird es wahrscheinlicher, dass sich die Krankheit verschlechtert und er ihr erliegt. Das belegen entsprechende Untersuchungen.

Was ist zu tun?

Im Menschen steckt die Grundüberzeugung: Tu Gutes, dann geht es dir gut. Eine solche Moralpädagogik ist auch in Ordnung. Nur der Umkehrschluss ist fatal: Mir geht es schlecht, also habe ich wohl Schlechtes getan. Zur Krankheit kommt dann nämlich noch Schuld dazu. Wenn eine Gesellschaft eine solche Sicht vertritt, bürdet sie dem Kranken zusätzliche Lasten auf und entzieht sich möglicherweise selbst der Pflicht, ihm solidarisch beizustehen. Dem gilt es entgegenzusteuern.

Porträt Regina Radlbeck-Ossmann
Regina Radlbeck-Ossmann ist Professorin
für Systematische Theologie/Dogmatik an der Martin- Luther-Universität Halle.

Wie?

Die jüdisch-christliche Tradition stellt sich den existenziellen Fragen von Krankheit und Leid. Zwar gibt es im Alten Testament (AT) neben der Weisung „Tue Gutes, damit es dir gut geht“ leider auch den Umkehrschluss: „Dir geht es schlecht, weil du gesündigt hast“. Aber in den späten Texten des AT wird letztere Aussage zunehmend kritisch hinterfragt: Wie kann es sein, dass es den Guten schlecht und den Bösen gut geht? Psalm 73 etwa stellt genau diese Frage. Das Beispiel schlechthin aber ist Ijob. Gott selbst verwahrt sich gegen die Auffassung, es würde Ijob schlecht gehen als Strafe für etwaige Sünden.

Im Neuen Testament geht dann Jesus auf derartige Deutungsmuster überhaupt nicht ein. Er lehnt einen entsprechenden Zusammenhang ab, als es um 18 Menschen geht, die beim Einsturz des Turmes von Schiloach erschlagen wurden. Als die Jünger einen Blindgeborenen zu ihm bringen, sagt er glasklar: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“

Dennoch sind auch in der christlichen Verkündigung Vorstellungen von Strafe oder Sühne durch Krankheit verblieben …

Leider. Bis heute sind diese Vorstellungen auch theologisch zu wenig reflektiert. Schaut man aber auf die Heilungen Jesu stellt man fest: Jesus fragt keinen einzigen Kranken nach seinem Vorleben. Stattdessen öffnet er ihm stets den Blick nach vorn und sagt: „Das Wirken Gottes soll an dir offenbar werden.“ oder: „An dir soll Heil geschehen.“ Das muss auch Aufgabe von Theologie und christlicher Verkündigung sein. Und im übertragenen Sinne auch der Medizin und der Gesellschaft.

Was bedeutet das in der Praxis?

Christlicher Umgang mit Krankheit muss von der Praxis Jesu geprägt sein, Menschen beizustehen und Zukunft zu eröffnen. Um mit Krankheit möglichst gut umgehen zu können – und das ist wichtiger geworden, seit wir immer älter werden –, müssen wir uns von der heute verbreiteten Vorstellung totaler Gesundheit verabschieden. Gesundheit gibt es nur im Fließgleichgewicht zwischen Wohlbefinden und Leiden. Jeder ist mindestens ein bisschen krank. Das Leben ist verletzlich – das ist das Normale. Krankheit, Leiden und Tod sind die offenen Wunden einer Welt im Werden, einer Schöpfung, die endlich ist und ausgespannt auf das Heil. Damit verbunden ist aber auch: Wenn Gott dir einen gesunden, schönen Körper gegeben hat, musst du auch auf ihn Acht geben und für ihn sorgen. Und du darfst andere nicht kränken, krank machen. Wird der Andere trotzdem krank, musst du für ihn sorgen.

Eckhard Pohl