Neuanfang nach sexuellem Missbrauch in der Kirche
Lass deine Gabe liegen und geh zu deinem Mitmenschen

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Der Weg zu einem Neuanfang nach dem Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch in der Kirche ist lang.
Der sexuelle Missbrauch in der Kirche ist eine Realität, die sich nicht abschließen lässt. Weder für die Betroffenen noch für die Kirche als Institution kann es ein einfaches „Vergessen“ oder „Hinter-sich-lassen“ geben. Gleichzeitig wächst in vielen Gemeinden der Wunsch nach einem Neuanfang. Warum aber gelingt dieser nicht? Warum bleiben Misstrauen, Wut und Ohnmacht bestehen?
Betroffene werden immer wieder mit der Erwartung konfrontiert, endlich zu vergeben. Doch Vergebung kann nicht eingefordert, nicht verordnet und nicht erzwungen werden. In der christlichen Tradition ist Vergebung ein Geschenk – aber eines, das mit der Forderung nach Umkehr verbunden ist. Der biblische Anspruch ist hoch: „Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dir fällt dort ein, dass jemand dir etwas vorzuwerfen hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Mitmenschen, dann komm und opfere deine Gabe.“
Damit macht Jesus unmissverständlich deutlich: Die Bitte um Vergebung setzt eine Umkehr voraus. Schuld muss erkannt, bekannt und wiedergutgemacht werden, bevor von Versöhnung gesprochen werden kann. Auch das Sakrament der Versöhnung spiegelt diese Logik wider: Ohne Reue, Bekenntnis, Vorsatz zur Umkehr und Genugtuung gibt es keine Lossprechung. Der Weg, den das Bußsakrament vorgibt, kann Orientierung bieten – und aufzeigen, wie ein Weiterleben in der Kirche nach dem Missbrauch denkbar ist.
Gewissenserforschung – Wo war mein Platz in dieser Geschichte?
Im Bußsakrament beginnt alles mit der ehrlichen Prüfung des eigenen Gewissens. Wer umkehrt, muss sich fragen: Was habe ich getan – oder unterlassen? In der Debatte um sexuellen Missbrauch in der Kirche richtet sich der Blick oft auf Täter oder auf Verantwortungsträger in hohen Ämtern. Aber was ist mit denen, die weggeschaut haben?
Jede Gemeinde, in der Missbrauch geschehen ist, ist ein Ort, an dem Kinder nicht geschützt, Täter nicht gestoppt und Hinweise nicht ernst genommen wurden. Manchmal aus Angst, manchmal aus Bequemlichkeit, oft aus falsch verstandener Loyalität. Bis heute gibt es Gläubige, die überführte Täter verteidigen oder ihnen – trotz erwiesener Schuld – den Status eines „guten Seelsorgers“ zusprechen. Doch eine Kirche, die wirklich aufarbeiten will, muss ehrlich fragen: Welche Haltung in unseren Gemeinden hat dazu beigetragen, dass Missbrauch möglich war?
Wer sein Gewissen erforscht, muss sich fragen: Habe ich Unrecht erkannt? Habe ich widersprochen? Habe ich Kindern und Betroffenen geglaubt? Oder habe ich geschwiegen? Umkehr beginnt nicht bei anderen – sie beginnt bei mir.
Reue – die Ehrlichkeit, sich der eigenen Schuld zu stellen
Wer sein Gewissen ehrlich erforscht, kann der Frage nicht ausweichen: Was bedeutet es, sich schuldig gemacht zu haben? Reue ist mehr als Bedauern oder Betroffenheit über das, was geschehen ist. Sie ist die innere Erschütterung angesichts der eigenen Schuld. Im Bußsakrament ist sie die entscheidende Voraussetzung für jede Bitte um Vergebung – denn nur, wer sich ehrlich seiner Schuld stellt, kann den Weg der Umkehr gehen.
In der Aufarbeitung von Missbrauch bleibt diese innere Erschütterung oft aus. Viel wird über Strukturen gesprochen, über systemische Fehler, über kollektives Versagen. Aber Reue ist nicht kollektiv. Sie kann nur persönlich sein. Wer ehrlich umkehrt, sucht nicht nach Entschuldigungen. Er rechtfertigt sich nicht mit Zwängen der Vergangenheit. Und vor allem: Er versteckt sich nicht hinter der Schuld anderer.
Es reicht nicht, auf diejenigen zu zeigen, die Täter waren oder Verantwortung trugen. Solange sich jeder nur auf das Versagen anderer konzentriert, bleibt die eigene Umkehr aus. Wer wirklich bereut, fragt nicht: „Wer hätte anders handeln müssen?“, sondern: „Was hätte ich tun müssen – und was werde ich in Zukunft anders tun?“
Bekenntnis – Schuld muss ans Licht
Im Bußsakrament folgt auf die Reue das Bekenntnis: Die Schuld muss ausgesprochen werden, damit die Umkehr glaubwürdig ist. Wer um Vergebung bittet, kann sich nicht ins Ungefähre flüchten. Er muss klar bekennen, was er getan oder unterlassen hat.
Genau an dieser Stelle stockt die Aufarbeitung in der Kirche. Vieles bleibt verborgen, vieles wird nur auf äußeren Druck hin benannt. Transparenz wird versprochen – und doch fehlt oft das klare Wort, das das ganze Ausmaß der Schuld offenlegt. Zu viele bleiben vage oder verlieren sich in Allgemeinplätzen. Doch eine Schuld, die nicht bekannt wird, bleibt wirksam.
Bekenntnis ist nicht nur eine Pflicht der Täter. Es betrifft auch jene, die weggesehen haben, die Zweifel verdrängten, die Täter verteidigten oder Betroffene zum Schweigen brachten. Gemeinden, die sich ehrlich fragen: „Was ist bei uns geschehen?“, übernehmen Verantwortung. Gemeinden, die schweigen, tun es nicht.
Ehrliches Bekenntnis bedeutet, Schuld beim Namen zu nennen – nicht als Pflichtübung, sondern um Gerechtigkeit zu ermöglichen. Nur dort, wo Wahrheit ausgesprochen wird, kann Heilung beginnen.
Der feste Vorsatz – Umkehr verlangt Veränderung
Ohne den festen Vorsatz zur Veränderung bleibt jedes Bekenntnis leer. Wer ehrlich umkehrt, nimmt sich vor, das begangene Unrecht nicht zu wiederholen. Im Bußsakrament ist dieser Vorsatz unverzichtbar – denn ohne den Willen zur Besserung verkommt Vergebung zur Beruhigung des eigenen Gewissens.
Wie kann dieser Vorsatz konkret aussehen? Es reicht nicht, Missbrauch als „Versagen des Systems“ zu beklagen. Schuld hatte konkrete Ursachen: Missbrauch wurde begünstigt durch Machtstrukturen, durch fehlende Kontrolle, durch eine Kultur des Schweigens und der Verharmlosung. Wer aufrichtig umkehrt, muss diese Bedingungen ändern.
Doch Veränderung ist nicht nur eine Aufgabe der Institution. Sie beginnt in den Gemeinden, in jedem Einzelnen. Es geht um den Vorsatz, genau hinzusehen. Den Vorsatz, Kindern zu glauben. Den Vorsatz, mutig zu widersprechen. Es geht darum, nicht mehr zu schweigen.
Wirkliche Umkehr zeigt sich nicht in Worten, sondern in Taten. Nur wo aus Reue eine Veränderung erwächst, kann neues Vertrauen entstehen.
Buße und Wiedergutmachung – nicht der Täter bestimmt, was genug ist
Reue allein genügt nicht. Wer Schuld auf sich geladen hat, muss für das Unrecht einstehen. Im Bußsakrament bedeutet das: Buße ist keine Verhandlungssache. Sie wird nicht vom Schuldigen selbst bestimmt, sondern von dem, dem Unrecht geschehen ist. Erst wenn das Opfer sagt: „Das genügt“, ist die Sühne vollbracht.
Genau hier liegt eine der tiefsten Verfehlungen der kirchlichen Aufarbeitung. Allzu oft wurden Wiedergutmachungsmaßnahmen festgelegt, ohne die Betroffenen selbst wirklich einzubeziehen. Entschädigungszahlungen wurden nach internen Kriterien festgelegt, symbolische Gesten als ausreichend erklärt. Doch Wiedergutmachung kann nicht von oben verordnet werden. Sie muss an den Maßstäben derer gemessen werden, die verletzt wurden.
Buße bedeutet, die Entscheidung darüber nicht selbst in der Hand zu haben. Buße bedeutet, sich den Forderungen derer zu stellen, die Unrecht erlitten haben. Sie bedeutet auch, Konsequenzen zu tragen – nicht nur finanziell, sondern persönlich und institutionell. Gerechtigkeit beginnt nicht mit dem Täter, sondern mit denen, die Unrecht erlitten haben.
Ein Neuanfang braucht Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Demut
Die Kirche kennt die Voraussetzungen von Vergebung. Solange Schuld nicht klar bekannt, bereut und wiedergutgemacht wird, kann es keinen Neuanfang geben. Schuld kann nicht mit Schweigen, nicht mit schnellen Versöhnungsgesten und nicht mit dem Verweis auf die Vergangenheit aus der Welt geschafft werden.
Selbst wenn Reue aufrichtig ist, selbst wenn Wiedergutmachung versucht wird – Vergebung bleibt ein Geschenk. Niemand hat ein Recht darauf. Der erlittene Missbrauch kann nicht „wieder gut gemacht“ werden. Die Betroffenen tragen die Folgen ein Leben lang. Möglicherweise ist es deshalb die Aufgabe der Kirche und ihrer Gläubigen, sich dauerhaft um Linderung des Leids zu bemühen – nicht, um Vergebung zu erlangen, sondern weil es das einzig Richtige ist.
Wer Aufarbeitung ernst meint, muss sich den eigenen Maßstäben stellen. Es reicht nicht, sich allgemein „bessere Strukturen“ zu wünschen. Es braucht eine ehrliche Umkehr, die sich in Reue, Veränderung, Bekenntnis, Wiedergutmachung und einer demütigen Vergebungsbitte zeigt.
Auch die Gemeinden stehen vor der Frage, wie sie mit dieser Vergangenheit umgehen. Was wäre, wenn wir wirklich hinsehen? Wenn wir Betroffenen zuhören und das Schweigen brechen? Was für eine Kirche könnte dann entstehen?
Wenn im Dialog mit den Betroffenen Wahrheit gesagt, Schuld anerkannt und Gerechtigkeit gesucht wird, gibt es vielleicht eine Chance – nicht auf eine schnelle Versöhnung, aber auf einen ehrlichen Neuanfang.