Mathilde Schlieper kümmert sich um Listen mit Verkehrstoten

2500 Unvergessene

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Mathilde Schlieper mit einer Liste, auf der Verkehrstote niedergeschrieben werden
Nachweis

Foto: Michael Bönte

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Erinnerung auf großen Papierbögen: Mathilde Schlieper nimmt eine Namensliste aus einer Vitrine.

Im Turm der Kraftfahrerkapelle St. Christophorus im münsterländischen Telgte werden die Namen von Verkehrstoten gezeigt. Mathilde Schlieper kümmert sich um die langen Listen. Ihre Arbeit spendet den Angehörigen Trost.

Ihr kurzer Dienstweg hat Symbolkraft. Wenn sich Mathilde Schlieper auf ihr Fahrrad setzt und vom nahen Bauernhof an der Bundesstraße 64 entlang zur St.-Christophorus-Kapelle fährt, ist sie bereits mitten im Thema ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Der Verkehr dort ist lebhaft, auch viele Lkw nutzen die Verbindung des westlichen Münsterlandes zur Autobahn bei Paderborn. Laut schlängelt sich die Verkehrs­ader durch die sonst beschauliche Bauerschaft Raestrup bei Telgte.

Die 79-Jährige radelt nicht nur zu der Kirche, in der die Raestruper immer noch ihren Sonntagsgottesdienst feiern. Sie radelt auch zur Kraftfahrerkapelle. Denn seit fast 60 Jahren gibt es im Turm des Kirchbaus einen kleinen Raum, der für viele Menschen zu einem wichtigen Ort der Trauer und Erinnerung geworden ist. In sechs großen Glaskästen hängen dort Papierbögen mit Daten von bei Autounfällen gestorbenen Menschen.

Monat für Monat werden die Transparente gewechselt, sonst hätten die annähernd 2500 Namen keinen Platz. Der Monat des Unfalls ist Anlass für den Aushang. Das schafft Verlässlichkeit vor allem für die Angehörigen, die das Gedenken gerade an den Jahrestagen suchen.

Schreckensmomente und Katastrophen

„Es ist ein Ort, an dem nicht vergessen wird“, sagt Schlieper. „Das ist entscheidend.“ Der kleine Kapellenraum ruft Ereignisse wach, die Jahre, zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. „Schreckensmomente, persönliche Katastrophen, massive Einschnitte in das Leben vieler Menschen.“ 

Jeder Name erzählt die Geschichte trauriger Schicksale. Die Pietà, die Kerzen, die Blumen und die Listen helfen den Angehörigen, damit umzugehen. Deshalb macht sich Schlieper seit 20 Jahren ehrenamtlich ein- oder zweimal in der Woche auf den Weg, um die Turmkapelle zu pflegen. „Hier sollen sie zur Ruhe kommen können.“

Ganz ruhig ist es nicht, auch wenn die schweren Glastüren geschlossen sind. Dumpf klingt das Donnern der Fahrzeuge von der Bundesstraße herüber. Schlieper wechselt die Blumen in der Vase vor der Mariendarstellung. „Im Sommer und Herbst sind es Dahlien aus dem heimischen Garten“, sagt sie. „Sonst bringe ich das mit, was gerade blüht oder grün ist.“

Mit Tuch und feinem Pinsel entfernt sie Staub von der Pietà. Ihr Mann hilft ihr oft. Die Grundreinigung des Raums übernimmt eine Reinigungskraft, um die Kerzen kümmert sich der Küster.

Ihre wichtigste Aufgabe aber ist eine andere. Ein kleiner Aushang an der Kapelle beschreibt es. Sie wird als Ansprechpartnerin für die Namenslisten genannt, mit ihrer Telefonnummer, über die sich Angehörige bei ihr melden können. „Das passiert in den letzten Jahren immer seltener“, sagt Schlieper. „Seitdem es den Trend gibt, Kreuze an Unfallorten aufzustellen, gehen die Anfragen für die Kraftfahrerkapelle zurück.“ Der Ort der Trauer und Erinnerung hat sich verschoben.

Die Kraftfahrerkapelle in Raestrup liegt direkt an der Bundesstraße 64. Foto: Michael Bönte

Auch die automatischen Meldungen der Polizei bei Verkehrstoten gibt es seit vielen Jahren aus Datenschutzgründen nicht mehr. „Vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr ruft mich ein Angehöriger mit der Bitte an, den Namen eines tödlich Verunglückten in die Listen aufzunehmen.“

Dann nimmt sie den großen Papierbogen und setzt sich an den Esstisch in der Stube. Mit Bleistift zieht sie feine Linien, damit Name, Wohnort, Beruf, Geburts- und Sterbedatum exakt positioniert werden können.

Ein feiner Federhalter hilft ihr bei ihrer „Schönschrift“, sagt Schlieper. „So geschwungen wie bei meinen Vorgängern bekomme ich das aber nicht hin.“

Die Ereignisse, die sie mit den Eintragungen auf die Kerndaten reduziert, gehen ihr immer nah. „Ich kann die Not dahinter erahnen.“ Auch weil es auf den Listen Namen gibt, zu denen sie die Gesichter kennt. Es gibt einige Unfallopfer aus der Nachbarschaft. „Auch der Name meiner Schwiegermutter steht hier.“

Nicht wenige Schicksale gehen ihr besonders nahe. „Ich kenne die Gefühle von Freunden und Verwandten in dieser Situation.“ Schlieper denkt dabei aber auch an die Ersthelfer und die Polizisten, die die Todesnachricht überbringen müssen.

Die Wohn- und Unfallorte liegen nur vereinzelt in der direkten Umgebung. Das Einzugsgebiet ist viel größer. Das gesamte Münsterland kommt häufig vor, aber auch Angaben aus ganz Deutschland, einige aus dem Ausland.

Außergewöhnliche Eintragungen gibt es auch: Lady Di etwa ist vermerkt oder Marianne Strauß, die Frau des Politikers Franz-Josef Strauß, die 1984 bei einem Unfall in Bayern ums Leben kam. Ihre Tochter kam später einmal in die Kapelle, um den Namen in der Vitrine zu finden und innezuhalten.

Viele Autofahrer suchen einen Ort der Ruhe

Es kommen nicht nur Angehörige. Die Kapelle ist Andachtsort für viele. Gerade Autofahrer auf Reisen machen Station, um zur Ruhe zu kommen. „Auch um für einen guten Verlauf ihrer Fahrt zu beten“, sagt Schlieper.

Auf dem Heimweg geht es für Schlieper wieder an der Bundesstraße entlang. Besonders beim Abbiegen zu ihrem Haus über den unbeschrankten Bahnübergang ist sie besonders vorsichtig. „Da hat es auf dieser Strecke schon viele Unfälle gegeben.“

Sie nimmt das Gespür für die Gefahren des Verkehrs aus der Kapelle mit in den Alltag. Ihr Mann war viele Jahre auch als Fernfahrer unterwegs. „Da war ich immer froh, wenn er wieder gesund nach Hause kam.“ Sie weiß, dass das alles andere als selbstverständlich ist – hinter jedem Namen auf den Listen in der Kraftfahrerkapelle in Raestrup steht für sie eine traurige Geschichte.

Michael Bönte