KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf TikTok

42 Sekunden Schrecken

Image
Marie Zachger nimmt ein Video für den TikTok-Kanal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf.
Nachweis

Iris Groschek/kna

Caption

Marie Zachger bei der Aufnahme eines Videobeitrags für den TikTok-Account der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Beiträge werden in englischer Sprache veröffentlicht.

Ist das soziale Netzwerk TikTok der richtige Ort, um den Holocaust zu thematisieren? Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme macht das seit zwei Jahren – und hat mit dieser modernen Form der Erinnerungsarbeit Erfolg.

Marie Zachger hält ein kleines Gefäß in eine Handykamera. Es war wohl eine Salbendose der Krankenstation des Konzentrationslagers Neuengamme. Eine Krankenstation im KZ? Nicht mit heutiger medizinischer Versorgung zu vergleichen, erklärt Zachger. Meistens sei die Station überfüllt gewesen und für die Kranken bestand die Gefahr, getötet zu werden, weil die SS sie nicht mehr für arbeitsfähig hielt. Oder die SS-Ärzte nutzten kranke Gefangene für entsetzliche Experimente.

42 Sekunden dauert das Video, mit dem Zachger über den Holocaust informiert. Für einen Clip im Sozialen Netzwerk TikTok ist das eher lang. Sie arbeitet in der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme und bespielt deren TikTok-Kanal „neuengamme.memorial“. Den gibt es seit zwei Jahren, die Gedenkstätte war damit weltweit Vorreiterin. „Für uns war die Frage, wo wir die Generation erreichen können, die sonst nur im Klassenverband zu uns kommt“, erklärt Iris Groschek, „und wie wir mit ihnen im Dialog bleiben können“. Groschek verantwortet die Social-Media-Angebote der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, zu der auch das ehemalige KZ Neuengamme gehört.

Groschek verzeichnet ein großes Interesse an der Zeit des Nationalsozialismus und dem Holocaust in der jungen Generation. Kritik, dass solche Themen nicht in die Sozialen Netzwerke gehören, widerspricht sie: „Ich finde es schade, wenn die alte Generation der jungen sagt, wie sie zu gedenken hat. Erinnerungskultur lebt ja von einem partizipativen Moment. Das heißt, die jungen Leute sollen die zukünftige Erinnerungskultur gestalten.“ TikTok eigne sich dafür. Die Plattform biete viele interaktive Möglichkeiten, beispielsweise auf Videos zu reagieren und in einen Dialog zu kommen.

Sie dürfen die Geschichte nicht zu sehr verkürzen 

Die Gedenkstätte nutze TikTok außerdem nicht nur als Form des Gedenkens der Opfer, sondern vor allem pädagogisch. TikTok sei schon lange nicht mehr wie dessen Klischee, voll von Tanzvideos. „Es ist ein Ort, an dem politisch kommuniziert wird“, sagt Groschek und verweist auf die hohen AfD-Wahlergebnisse unter jungen Wählerinnen und Wählern bei den vergangenen beiden Landtagswahlen. AfD-Politiker seien auf TikTok am aktivsten.

Auch für rechtsextreme Propaganda sind Online-Plattformen die wichtigsten Kanäle. Kinder und Jugendliche bieten eine leichte Zielgruppe, weil sie sehr viel Zeit im digitalen Raum verbringen. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2021 nutzt gut ein Viertel aller Kinder von 10 und 11 Jahren TikTok, bei den 12- bis 13-Jährigen ist es über die Hälfte. 

Optisch und in den Erzählformen passt sich der Neuengammer Kanal den Eigenheiten von TikTok an. Es gilt: Je kürzer, desto besser. „Wir dürfen dabei aber die Geschichte nicht unangemessen verkürzen“, sagt Groschek. Die ersten 0,5 Sekunden des Videos müssen überzeugen, Nutzerinnen und Nutzer scrollen sonst weiter zum nächsten Video. „Wir mussten sozusagen eine neue Form der Geschichtserzählung lernen – zum Beispiel muss die Kernfrage des Clips ganz an den Anfang.“ Zwei bis drei Videos lädt die Gedenkstätte wöchentlich hoch. Manche vermitteln eher Fakten, andere geben Einblicke in die Arbeit vor Ort.

Zachger und Groschek wollen, dass ihr Kanal glaubwürdig und authentisch ist und ernst genommen wird: „Unser Kanal soll keinen Platz für Antisemitismus und Rassismus bieten.“ Mit Hilfe von Wortfiltern würden Kommentare mit problematischen Ausdrücken automatisch gesperrt. Außerdem checken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelmäßig die Kommentare. Bei Problemen hat das Team einen direkten Ansprechpartner bei TikTok. Zachger lobt die Community, die oft auch selbst Kommentare kontere.

Mehr als eine Million Gefällt-mir-Angaben

28 000 Menschen folgen neuengamme.memorial. Das erfolgreichste Video „3 Dinge, die du in einem ehemaligen KZ niemals machen solltest“, entstand als Kooperation mit der Deutschen Welle und hat mehr als eine Million Likes bekommen. Viele Leute hätten auf das Video reagiert und mit eigenen Videos geantwortet, sagt Groschek.

Inzwischen sind sie dabei nicht mehr allein. So macht etwa auch die österreichische KZ-Gedenkstätte Mauthausen TikTok-Videos. Iris Groschek würde sich auch von anderen Institutionen mehr digitale Vermittlung wünschen. Sie sagt: „Wir müssen digitale Besucherinnen und Besucher genauso ernst nehmen wie physische vor Ort.“

Nicola Trenz