Dr. Hermann-Josef Braun über Transparenz und Digitalisierung
Archiv: „Aufbewahrung auf Dauer“
Akten finden viele langweilig. Doch ohne sie kann etwa sexuelle Gewalt in der Kirche nicht aufgearbeitet werden. Hermann-Josef Braun, langjähriger Leiter des Dom- und Diözesanarchivs Mainz, spricht über Transparenz und Digitalisierung.
Aktuell stehen Akten in der katholischen Kirche „im Rampenlicht“, im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von sexueller Gewalt in der Kirche.
Braun: Nicht erst seit heute. Schon seit 2010.
Jetzt noch mal mehr durch das Gutachten des Erzbistums Köln. Sie haben den Überblick über die Kirchenarchivlandschaft als ehemaliger Vorsitzender der Bundeskonferenz der Archive der katholischen Kirche in Deutschland.
Das ist schon länger her. Aber man hat ein Netzwerk.
Was muss Ihrer Meinung nach passieren, bei den Archiven, bei der Aktenführung in der Kirche, damit es Transparenz gibt?
Viele Bistümer haben solche Projekte wie in Köln, aber diese sind nicht deckungsgleich; sie sind weder in der Zielrichtung noch in der Methodik gleich. Im Bistum Mainz wird derzeit auch ein Aufklärungsprojekt durchgeführt. Es gibt Projekte, die fächerübergreifend an das Thema herangehen. Oder Projekte, die rein juristisch arbeiten, wie in Köln.
In Arbeit ist etwa beim VDD (Anmerkung der Redaktion: Verband der Diözesen Deutschlands) ein Gesetz für die Personalaktenführung von Klerikern und Kirchenbeamten. Damit soll in allen deutschen Bistümern hinsichtlich der Personalakten eine überall vergleichbare Aktenführung erreicht werden. Schon allein deswegen wird es nicht funktionieren, weil die Bistümer unterschiedliche Strukturen haben, auch in ihren Verwaltungen. Die Archivare, die praktisch mit diesen Dingen zu tun haben, sind an dem Gesetz weder beteiligt gewesen noch überhaupt befragt worden. Das ist ein Manko, wenn solche Dinge am grünen Tisch entstehen.
Gibt es denn in Ihrem Archiv Akten, die mit Missbrauchsfällen zu tun haben, oder liegen solche Akten in einem Geheimarchiv? Vom Kirchenrecht her ist ja vorgesehen, dass es in jedem Bistum ein Geheimarchiv für heikle Angelegenheit gibt.
Wir sind 1991 mit dem Dom- und Diözesanarchiv in den jetzigen Standort eingezogen. Mir war damals bewusst: Im CIC (Anmerkung der Redaktion: Gesetzbuch des kanonischen Rechts der römisch-katholischen Kirche) ist das Geheimarchiv vorgesehen. Ich war damals noch ein junger Mann ohne große Erfahrung. Daher fragte ich bei den Kollegen an: „Geheimarchiv? Was ist denn da drin?“ „Keine Ahnung.“ Das war eine Chimäre. Aber immerhin habe ich bei uns im Dom- und Diözesanarchiv eine Räumlichkeit vorgesehen, in der man ein Geheimarchiv hätte unterbringen können. Gleichwohl haben wir bisher noch keinerlei Einrichtung und vor allem kein Material. Im Bischofshaus gibt es mit Sicherheit ein Geheimarchiv.
Was für uns relevant ist: Das Dom- und Diözesanarchiv erhält die Personalakten der verstorbenen Geistlichen, wenn die versicherungsrechtlichen Angelegenheiten abgearbeitet sind. Im Anschluss daran werden die Personalakten von uns übernommen, so wie es das kirchliche Archivgesetz vorsieht.
Was braucht es überhaupt, um ein gutes Archiv zu führen? Im Zeitalter der Digitalisierung?
Wir sind ja noch gar nicht bei der Digitalisierung. Mit Digitalisierung verbindet man häufig, dass die Originale weggeworfen werden können. Das ist nach meinem Dafürhalten ein großer Trugschluss. Bis heute gibt es selbst im öffentlichen Bereich, in dem man zum Teil wesentlich weiter ist als in der Kirche, keine in sich schlüssige Lösung für die dauerhafte Aufbewahrung. Archiv heißt ja: Aufbewahrung auf Dauer.
Eine Papierakte, die in herkömmlicher Art und Weise im Archiv abgelegt wurde, kann ich mir selbst nach mehreren hundert Jahren nochmals ansehen. Wenn auf die erforderlichen Klimabedingungen geachtet wurde, dann entspricht die Akte immer noch dem Zustand der ursprünglichen Ablage, auch wenn zwischenzeitlich Jahrhunderte vergangen sind. Bei der Digitalisierung wird hingegen eine Trennung zwischen der Information und dem Trägermaterial für die Information vorgenommen. Um die Daten auch später nochmals lesen zu können, brauche ich eine bestimmte Software und Hardware. Da wird vieles schon gemacht. Aber eine letztlich in sich schlüssige Lösung gibt es noch nicht.
Was die Schriftgutverwaltung im Bistum Mainz angeht – das muss man ganz nüchtern und ehrlich sagen –, hängen wir stark hinter der allgemeinen Entwicklung zurück.
Werfen Sie auch Dinge weg? Oder wird wirklich alles aufgehoben?
Das, was im Archiv aufgehoben wird, soll auf Dauer aufgehoben werden. Daher ist die größte Kunst des Archivars: das Wegwerfen.
Was für eine Eigenschaft braucht man als Archivleiter, um sich von der Menge Dokumente nicht „erschlagen“ zu lassen? Liebe fürs Detail? Unterscheidungsfähigkeit? Fleiß? Geduld?
Die Dinge, die Sie genannt haben, sind alle wichtig. Man muss ein historisches Gerüst haben, um das Archivmaterial einordnen zu können. Das ist sehr wichtig. Was speziell das Bistum angeht: Dieses Wissen muss man sich im Laufe der Zeit aneignen. Archivare sind bei Kommunen, beim Bund, bei Firmen, Verbänden und so weiter tätig. Es muss ein Grundverständnis da sein, die Details für die jeweilige Verwaltung kommen mit der Zeit.
Als Sie als Archivleiter 1988 im Bistum begannen, sagte der damalige Generalvikar Martin Luley einmal: Das Dom- und Diözesanarchiv befinde sich „quasi in der Eiszeit“. Was haben Sie getan, um es „aufzutauen“?
Als ich kam, arbeitete dort noch eine ältere Dame, deren Vorliebe in der Beantwortung genealogischer Anfragen bestand. (Anmerkung der Redaktion: Genealogie steht für Ahnenforschung). Die Suche nach den genealogischen Wurzeln der eigenen Familie, die weltweit betrieben werden kann und teilweise zu einem lukrativen Geschäftsfeld geworden ist, stellt letztlich nur einen Nebenaspekt dar. Ich habe versucht, meine Arbeit an den allgemein gültigen Standards des Archivwesens zu orientieren, so wie dies während der Berufsausbildung an der Archivschule vermittelt wurde.
Ein zweiter wichtiger Punkt war die Zusage der Bistumsleitung nach einer Aufstockung des Personals auf insgesamt vier Archivarsstellen. Diese Grundvoraussetzungen der Fachausbildung und der Anzahl der Stellen scheinen mir in der aktuellen Situation nicht mehr gegeben zu sein.
Wenn Akten übernommen werden, bekommen sie eine Nummer und sind damit eindeutig festgelegt. Somit kann man auch nach langen Zeiträumen immer noch sehen, zu welchem Zeitpunkt dieses oder jenes Dokument in das Archiv gelangt ist. Die Dokumente werden unter Umständen zu einem neuen Bild zusammengesetzt, aber die Einzelteile sind immer noch greifbar. Ein fachlich-methodisches Arbeiten sollte man umsetzen. Das erleichtert es auch, neues Personal, das ebenfalls ausgebildet ist, zu integrieren; der fachlich Ausgebildete weiß, worum es geht.
Interview: Anja Weiffen