Jahresserie 2019 – Folge 6
Ausgebildet zum Zuhören
„Wir müssen reden!“ heißt die Jahresserie 2019. Eine Beziehung gelingt nur, wenn man miteinander redet .... In der Folge sechs geht es allerdings nicht nur ums Reden, sondern besonders ums Zuhören. Einblicke in die Arbeit der ökumenischen Telefonseelsorge in Gießen. Von Barbara Faustmann.
Es ist ein sonniger Tag in Gießen. Der Weg zur ökumenischen Telefonseelsorge führt in eine Seitenstraße. Unter schattigen Bäumen fließt ein kleiner Bach. Von Balkon im oberen Stockwerk der Telefonseelsorge (TS) ist es ein wunderschöner, ein Ruhe spendender Ausblick.
Pfarrerin Martina Schmidt (58) öffnet die Tür. Der Blick fällt in freundlich eingerichtete Räume. Warme Farben geben den Ton an. Bilder zieren die Wände, es gibt eine kleine Essecke, einen Besprechungsraum, die Büros von Pfarrerin Schmidt und von Pastoralreferent Gerhard Schlett (56). Die beiden Seelsorger bilden die Doppelspitze bei der ökumenischen Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar.
Ankommen und sich wohl fühlen
Das Büro von Pfarrerin Schmidt ist heimelig, es gibt ein Sofa mit einem Landschaftsbild darüber. „Ich brauche es so, um mich wohlzufühlen“, sagt die 58-Jährige. Das Licht über einer Zimmertür blinkt. Das heißt, hier führt eine Ehrenamtliche gerade ein Gespräch, und der Eintritt ist verboten. Später zeigt sich, auch hier befindet sich kein nüchterner, funktionaler Büroraum. Es gibt ein Bett mit einer bunten Tagesdecke darauf, einen Schreibtisch und natürlich das Telefon. „Unser Hilfsangebot ist nicht weiter weg als das nächste Telefon“, bringt es Pfarrerin Schmidt auf den Punkt.
Wenn es klingelt, dann ist Zuhören, Verstehen, sein Ohr leihen die oberste Maxime für die Zeit am Telefon. „Sich in den Menschen hineinversetzen, fühlend hören und nicht dominieren, das ist sehr wichtig“, beschreibt Schlett den Verlauf eines Gesprächs.
Rund um die Uhr können hilfesuchende Menschen anrufen. Mehr als zwei Millionen Anrufe gehen jährlich bundesweit bei der Telefonseelsorge ein. Was haben die Menschen auf dem Herzen? Manche sind einsam und suchen ein Gespräch, andere kämpfen vielleicht mit einer Erkrankung, es gibt Partnerschaftskonflikte, plötzliche Armut, und auch Menschen mit Selbstmordgedanken sind am Apparat. „Oftmals sind es Menschen, die etwas Persönliches besprechen wollen, etwas, das sie nicht mit Angehörigen, Freunden oder Kollegen teilen können oder wollen. Weil es leichter fallen kann, sich jemanden zu öffnen, den man nicht kennt“, beschreibt Martina Schmidt Situationen. Meist sind es keine leichten Gespräche.
Die Ehrenamtlichen werden intensiv in Schulungen auf diese Aufgabe vorbereitet. Schmidt und Schlett halten das für unumgänglich. In der einjährigen Ausbildung, den regelmäßigen Fortbildungen und den monatlichen Supervisionen lernen die Ehrenamtlichen auch, mit sich selbst gut umzugehen, Grenzen zu wahren und zunehmend eine professionelle und gelassene Haltung einzunehmen.
„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, so heißt es im Volksmund. Eine kleine Übersicht zeigt auf, wie ein Gespräch geführt wird: „Ich höre auf den Anrufenden und auf mich selbst. Hören mit Bewertung, mit Angst und mit einem Eigenbedürfnis. Dem Mensch am anderen Ende der Leitung Raum geben, verstehen, was er oder sie sagt, Gefühle erspüren und das Erzählte annehmen.“
Auf Seiten des Ehrenamtlichen geht es darum, die eigene Stimme zu akzeptieren, die Botschaft aufzufangen und die eigene Empfindung zu klären. „Ich muss das Gespräch empathisch und intuitiv lenken, wenn es zum Beispiel zu viele Informationen auf einmal gibt. Vielleicht zurück auf das eigentliche Kernproblem zu sprechen kommen“, erläutert Schlett. Es geht keinesfalls darum, die Anrufer zu dominieren. Es geht darum, sie in dem Gespräch ihren ureigenen Weg erkennen zu lassen. Einen Impuls geben, damit eine eigene Lösung gefunden werden kann.
70 Ehrenamtliche engagieren sich in Gießen. „Damit sind wir wirklich gut aufgestellt“, freut sich Pfarrerin Schmidt. Sie arbeiten in 24 Stunden in fünf Schichten.
Sie freut sich auf ihren Dienst
Seit 2006 ist die Frau dabei, die gerade im Dienst eine kleine Pause einlegt. Ihren Namen nennt sie nicht, denn Anonymität, sowohl bei den Ehrenamtlichen als auch bei den Anrufern, hat oberste Priorität. Sie setzt sich kurz dazu und spricht über ihre Motivation. „Ich möchte den Menschen Gutes tun“, sagt sie ganz einfach. Sie freut sich immer auf ihren Dienst, kommt gern in die Räume der Telefonseelsorge. „Wenn ich hier ankomme, fahre ich mich schnell herunter.“ Für das eigene Leben hat sie schon viel mitgenommen und sich dementsprechend weiter entwickelt. Dazu tragen für sie die wertvollen Fortbildungen, die Supervisionen und die Gemeinschaft bei. Geht ihr etwas sehr nahe? Sicherlich, diese Situationen gibt es, aber sie macht es nicht zu ihrem Ding. „Es kommt auf die Haltung an. Wir begleiten die Menschen. Doch der Weg, den ich mir vorstelle, muss nicht der Weg des Anrufers sein. Was ich lerne, das darf ich auch mitnehmen“, betont die Ehrenamtliche. Sie ist an sechs Tagen der Woche berufstätig. „Am siebten Tag komme ich sehr gern zur TS“, sagt sie.
Es gibt Dienstpläne, so dass die Ehrenamtlichen frühzeitig ihren Einsatz in ihrem Alltag einplanen können. Schlett und Schmidt machen die Beobachtung, dass die meisten Ehrenamtlichen viele Jahre dabei bleiben. Sie geben nicht nur, sondern sie nehmen auch für sich selbst etwas mit. „Von ihrer Arbeit erzählen dürfen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aber nicht“, stellt Schmidt klar. Bei der TS kann jeder anrufen. Kennzeichen und Werte sind die Niedrigschwelligkeit, eine Erreichbarkeit rund um die Uhr, Beratungskompetenz, Verschwiegenheit, Anonymität und Kostenfreiheit. Niemand, der anruft, wird nach seinem Namen gefragt, und die Rufnummer wird nicht angezeigt. Es geht um Wertschätzung auf beiden Seiten.
Voraussetzung für ein Gespräch ist, dass die Anrufenden dieses Angebot ernst nehmen. „Es gibt halt auch immer wieder mal Scherzanrufe, das lässt sich nicht vermeiden“, erzählt Schmidt. Die TS beendet das Gespräch, wenn Begegnen, Klären, Haltgeben oder Begleiten nicht möglich ist. „Demütig und hoffnungsvoll begleiten. Nur so geht es, sich mit der eigenen Begrenztheit und der Situation abzufinden und den Anrufer wieder allein in seiner Welt zurückzulassen“, erläutert Schlett. Das Profil der TS besteht darin, dass es um Hilfe geht, die im Moment gebraucht wird und ohne festgelegtes Ziel sein darf. Wege der Zukunft heißt bei der TS: Offen für Wandel und Fortschritt. Das veränderte Kommunikationsverhalten der Menschen und die Verbreitung der elektronischen Medien haben auch das Arbeitsverhalten der TS verändert. Die Technik hält Einzug, und Beratungen finden auch online statt.
Neue Medien und Kommunikationsmöglichkeiten werden sorgfältig geprüft, bevor sie in Betracht kommen. Das Internet ergänzt die Arbeit der TS. Beratung jetzt auch online Menschen, die Rat und Hilfe suchen, können dies nun auch per E-Mail tun. Der Vorteil: In der Internet-Beratung nehmen sich Nutzer und Seelsorger mehr Zeit. Schlett erläutert: „Es birgt die Chance, achtsamer wahrzunehmen, zu lesen und zu reagieren. Daraus kann sogar ein längerer Zeitraum werden, wenn es der seelische Entwicklunsgprozess erforderlich macht. Voraussetzung dafür ist, dass immer derselbe Berater in Kontakt mit dem Gegenüber ist.“
Die ökumenische Zusammenarbeit hat sich für die Kirchen bewährt. „Es geht nämlich nicht um Konfessionen, sondern um das christliche Profil“, sagen beide Seelsorger. Selbstverständlich sind ökumenische Gottesdienste, der Austausch über religiöse Fragen und gemeinsame Veranstaltungen. Die Zeit bei der Telefonseelsorge ist um. Martina Schmidt und Gerhard Schlett kehren in ihre Büros zurück. Es war ein informeller, ein harmonischer und wohltuender Besuch in Gießen. Ich nehme das gute Gefühl mit, hier wird wertvolle und verantwortungsbewusste Arbeit geleistet.