Bischof Peter Kohlgraf will Betroffene treffen

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Bischof Peter Kohlgraf hat sich anlässlich der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der Kirche mit einem Brief an alle Gemeinden im Bistum Mainz gewandt. In seinem Brief schreibt er:

Bischof Peter Kohlgraf
Bischof Peter Kohlgraf will mit Betroffenen das Gespräch suchen,
„weil es nicht genügt, die Situationen nur aus den Akten
herauszulesen“. Foto: Bistum Mainz

„Die Ergebnisse der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch durch Diakone, Priester und männliche Ordensleute, die in diesen Tagen veröffentlicht wurden, haben mich erneut erschüttert. Dass die Wirklichkeit sexuellen Missbrauchs in der Kirche ein Thema ist, war seit Jahren klar. Dennoch zeigen die jetzt offenliegenden Erkenntnisse mir neu, dass wir als Kirche einen langen Weg der Aufarbeitung und des Umgangs mit dem Thema sexualisierter Gewalt vor uns haben. Das gilt auch für mich als Bischof von Mainz. Diesen Weg will ich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bistum Mainz, aber auch mit den Gläubigen gehen und mich dieses Themas mit seinen verschiedenen Feldern annehmen. Trotz vieler Bemühungen in den vergangenen Jahren stehen wir noch am Anfang.

Mit der nun vorgelegten MHG-Studie beginnt eine neue Phase der Aufarbeitung. Es liegen Zahlen vor, die auch für mich erschreckend sind, und die Dunkelziffer wird hoch sein. In den sieben Jahrzehnten seit 1946 sind im Bistum Mainz 53 Geistliche des Missbrauchs beschuldigt worden. Als Bischof stehe ich vor Fragen, welche die Kirche als Institution betreffen und das kirchliche Selbstverständnis in Frage stellen. Offenbar kann der Priesterberuf auch Männer anziehen, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zum Täter werden. Klerikale Machtstrukturen und ein bestimmtes klerikales Selbstverständnis fördern möglicherweise derartige Verbrechen. Bestimmte Auffassungen der kirchlichen Morallehre verhindern einen offenen Umgang mit den Erfahrungen und Fragen menschlicher Sexualität. Klerikalismus zeigt sich auch in der Praxis der Verantwortlichen, das System zu schützen und damit die Betroffenen zum Schweigen zu bringen. Das sind einige der ganz konkreten Fragen, die von der MHG-Studie benannt werden und denen ich nachgehen werde. Mit plakativen und undifferenzierten Lösungen kommen wir hier jedoch nicht weiter. Das Thema sexualisierter Gewalt und der Umgang damit fordert von vielen einen Haltungswechsel und echte Umkehr. Wie ich als Bischof dies begleiten und selbst leben kann, ist eine drängende Frage für mich.

Der Umgang mit Sexualität und die Reflexion einer emotionalen Persönlichkeitsentwick- lung im Priesterseminar ist schon seit vielen Jahren verstärkt Thema in der Priesterausbildung, und auch die Präventionsarbeit hat dort einen festen Platz. Ich bin froh, dass wir im Bistum Mainz schon länger eine Theologenausbildung praktizieren, in der Frauen und Männer weite Wegstrecken der Ausbildung gemeinsam gehen, so dass sich keine klerikalen Sonderwelten bilden. Ich werde mich gemeinsam mit den anderen Bischöfen, aber auch mit den Einrichtungen des Bistums Mainz den Ergebnissen und Empfehlungen der jetzt vorgelegten MHG-Studie stellen und den Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch weiter sensibilisieren.

Unsere Aufmerksamkeit haben jedoch in besonderer Weise die Betroffenen von sexualisierter Gewalt verdient. Ihre Situation führt uns unmissverständlich den Auftrag des Evangeliums vor Augen, Menschen groß zu machen, die Kleinen zu stärken und zu schützen. In den kirchlichen Einrichtungen und Gruppen muss eine Kultur der Achtsamkeit gelebt werden, für die wir uns alle einsetzen müssen. Ich bin allen dankbar, die sich als Priester, Haupt- und Ehrenamtliche für diesen kirchlichen Auftrag glaubwürdig einsetzen. Im Bistum Mainz haben in den vergangenen Jahren die in der Seelsorge Tätigen Präventionsschulungen durchlaufen, ebenso alle diejenigen, die sich ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit engagieren. In diese Schulungs- und Präventionskonzepte müssen die Ergebnisse der Studie eingebracht werden.
Vertuschung und Schutz der Institution darf es nicht geben. Das muss auch im Umgang mit den Tätern deutlich werden. Im Bistum Mainz finden Betroffene Ansprechpartner, um über ihre Situation zu sprechen. Seit einem Jahr bin ich Bischof von Mainz. Ich trage heute die Verantwortung und stelle mich den Ergebnissen der Studie, die den Zeitraum vor meiner Bischofszeit betreffen. In diesem Jahr hatte ich noch keine Gelegenheit, Be- troffenen persönlich zu begegnen. Ich kann ihr Schicksal nur erahnen. Ihr Leid bedauere ich zutiefst. Ich möchte in den kommenden Wochen und Monaten mit Betroffenen das Gespräch suchen, weil es nicht genügt, die Situationen nur aus den Akten herauszulesen. Die betroffenen Menschen möchte ich nicht als ‚Fälle‘ sehen. Auch ihre Lebensgeschichten gehören zum Bistum. Ich will als Bischof auch dieses Stück Vergangenheit in meinem Bistum kennenlernen. Diese Begegnungen werden freilich ohne Öffentlichkeit stattfinden.
Dankbar bin ich der Deutschen Bischofskonferenz, die jetzt zur Veröffentlichung der MHG-Studie wieder ein Beratungstelefon für Betroffene anbietet, da die Veröffentlichung der Studie sicher manche alte Wunde aufreißen wird.“

 

Zur Sache: 18. November: Gottesdienst im Mainzer Dom

In seinem Brief an alle Gemeinden im Bistum kündigt Bischof Peter Kohlgraf an, dass im Mainzer Dom am Sonntag, 18. November, um 15 Uhr ein Gottesdienst für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt durch Kirchenmitarbeiter stattfinden wird. Wörtlich schreibt er dazu: „Wir wollen in diesem Gottesdienst zum Ausdruck bringen, dass wir gemeinsam an der Seite der Betroffenen stehen, ich will sie als Bischof um Vergebung bitten – und deutlich machen, dass wir das uns Mögliche tun, dass die Taten weiter aufgeklärt, aufgearbeitet und in Zukunft verhindert werden.“
Die Pfarrer im Bistum sind gebeten, den Brief den Gottesdienstbesuchern am kommenden Wochenende,
29. und 30. September, durch Vorlesen oder Auslegen bekannt zu machen. (mbn)