Unterwegs mit Gemeindereferentin Anna Wilhelm
„Darf ich Ihnen den Segen spenden?“
Einer ihrer „Arbeitsplätze“ als Seelsorgerin ist das Auto. Fast alles, was Gemeindereferentin Anna Wilhelm für ihren Dienst braucht, befindet sich in einem schwarzen Trolley. Die 50-Jährige kümmert sich in ihrer Pfarrei St. Antonius im Osten Kassels vor allem um die Senioren. Sie ist auch Klinikseelsorgerin im Elisabeth-Krankenhaus in der Kasseler Innenstadt. Von Hans-Joachim Stoehr
Anna Wilhelm ist tagsüber am besten über das Mobiltelefon erreichbar. Deshalb hat die Gemeindereferentin im Auto ihr Handy mit einer Freisprechanlage verbunden. „Als Seelsorger müssen wir doch erreichbar sein. Das habe ich im Krankenhaus gelernt“, sagt sie. Aber sie will nicht nur erreichbar sein. Sie will sich Zeit nehmen. „Begegnungen, die Seelsorge, benötigen Zeit. Wenn ich Menschen besuche, ihnen zuhöre, dann muss ich Zeit mitbringen“, fügt sie hinzu.
Während Wilhelm vom Zentrum Kassels stadtauswärts fährt, klingelt ihr Telefon. Im Gespräch geht es um die Absprache wegen einer Beerdigung. Sie ist eine der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bistum Fulda, die mit dem Beerdigungsdienst beauftragt sind. Das liegt nahe bei ihrer Seelsorge in Altenheimen und im Krankenhaus. „Es kommt immer wieder vor, dass Menschen, die mich durch die Begleitung ihrer Angehörigen kennen, dann bitten, die Beisetzung zu übernehmen“, erzählt Wilhelm.
An diesem Morgen steuert die Seelsorgerin ein Seniorenheim in Sandershausen an. Es ist eines von insgesamt neun Altenheimen, die sie seelsorglich betreut. Sandershausen ist ein Ortsteil von Niestetal östlich von Kassel und gehört kirchlich zur Pfarrei St. Antonius. Auf dem Parkplatz vor dem Heim holt Wilhelm den Trolley aus dem Kofferraum – zusammen mit der weißen Albe, die sie später im Wortgottesdienst trägt.
Im Heim begrüßt die Gemeindereferentin herzlich die Sozialarbeiterin Yang Hyungkyung. Die unterstützt Wilhelm bei der Organisation. „Schon seit Jahren. Sie ist der Motor. Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt die Gemeindereferentin erfreut. In der Cafeteria des Heims haben sich schon die ersten Heimbewohner für den Wortgottesdienst eingefunden. Nach und nach füllt sich der Raum. Helferinnen schieben Seniorinnen und Senioren im Rollstuhl in die Cafeteria, andere kommen selbst mit dem Rollator und setzen sich auf einen der bereitstehenden Stühle. Zusammen sind es um die 20 Mitfeiernde.
Eine Predigt zum Bibeltext und die Lieder kommen vom Smartphone
Durch zwei Fensterfronten dringt helles Licht ein. Als Evangelientext hat die Seelsorgerin das Kapitel von Thomas ausgewählt, der fragt und zweifelt. „Wow, was für ein Text“, ruft Wilhelm in ihrer Predigt aus. Sie finde sich in diesem Thomas wieder. Denn auch wir hätten unsere Zweifel zu glauben angesichts des Leids, das etwa die Menschen in der Ukraine erlitten. Die Musik zur Einstimmung und auch die Lieder kommen aus einem Lautsprecher. Gespeichert sind sie auf dem Smartphone von Anna Wilhelm.
Vor dem Holzkreuz auf dem als Altar hergerichteten Tisch steht eine Hostienschale. Aber nicht alle Heimbewohner empfangen die Kommunion. „Darf ich Ihnen den Segen spenden?“, fragt Wilhelm respektvoll eine Heimbewohnerin. Als die durch Kopfnicken einwilligt, hält Wilhelm ihre Hand über deren Kopf und spricht ein kurzes Segensgebet. Nach dem Schlusssegen und dem Lied „Komm, Herr, segne uns!“ leert sich die Cafeteria langsam.
Bei ihren Besuchen in den Heimen fragt Wilhelm bei den Verantwortlichen nach, ob es Bewohner gibt, die sich über einen Besuch von ihr freuen würden. Und damit meint sie alle, „die ein Gebet oder einen Segen wünschen – also nicht nur Katholiken“. An diesem Morgen in Sandershausen ist es ein Gemeindemitglied aus St. Antonius. Die Sozialarbeiterin bringt sie in einen Aufenthaltsraum im Obergeschoss. Die Seniorin stammt aus Polen und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Durch ihre Demenz spricht sie immer wieder Polnisch. Die in Kasachstan geborene Gemeindereferentin versucht es mit Russisch. „Leider verstehe ich kein Polnisch.“ Anna Wilhelm lädt dazu ein, gemeinsam ein Vaterunser zu beten. Und sie segnet die Seniorin im Rollstuhl. Die Gesichtszüge der Heimbewohnerin hellen sich auf. Sie lächelt. Wilhelm lächelt auch und fragt: „Kennen Sie mich noch?“ Die Antwort kommt prompt: „Klar!“
„Zu den Menschen hingehen, ihnen zuhören, trösten, sich mit ihnen freuen“
Mit in ihrem „Gepäck“ hat Wilhelm den vierseitigen Wochenbrief „Gute Besserung“, den sie im Seniorenheim verteilt. Aber nicht nur dort. Die Gemeindereferentin ist an diesem Morgen auch unterwegs zu älteren Gemeindemitgliedern, die nicht im Heim leben und sich über einen Besuch freuen.
Immer geht es der Seelsorgerin um Begegnung. Und das heißt für Wilhelm: „zu den Menschen hingehen, ihnen zuhören, trösten, aber sich auch mit ihnen freuen“, sagt sie bei der Fahrt im Auto.
Nächste Station auf ihrer morgendlichen Tour ist ein Ehepaar, von dem Anna Wilhelm erfahren hat, dass es an Corona erkrankt ist. Sie wirft einen Wochenbrief ein und klingelt dann. Sie bleibt in ein paar Metern Abstand vor der Tür stehen. „Ich habe euch etwas Lesestoff mit guten Texten eingeworfen“, sagt die Seelsorgerin und zeigt auf den Briefkasten. „Braucht ihr etwas? Soll ich etwas einkaufen?“ Aber das Ehepaar hat Hilfe.
Einige Minuten später parkt Wilhelm das Auto in einem Wohngebiet, das am Hang liegt. Arbeiter bessern einen Straßenabschnitt aus. In der Nähe trifft die Gemeindereferentin Gregor Sopalla im Garten an. Der rüstige Senior ist seit elf Jahren Mitglied im Pfarrgemeinderat der früheren Pfarrei St. Kunigundis. Er ist traurig, dass ihre gleichnamige Pfarrkirche – und jetziger Kirchort – seit einiger Zeit wegen Baumängeln geschlossen ist. Während er sich mit Wilhelm unterhält, gehen die Arbeiter zu seiner Garage. Dort hat Sopalla Kaffee, Wasser und ein paar Kekse bereitgestellt.
Wieder zurück im Auto sagt Wilhelm: „Das sind unsere aktiven Gemeindemitglieder. Dass die Kirche geschlossen ist, trifft sie zutiefst. Und dann noch die Veränderungen zur Großpfarrei.“ Wichtig sei, das zu erhalten, was an Aktivitäten in den Kirchorten gut läuft.
Es geht weiter zu Franz Höfer. Er war lange Sprecher im Pfarrgemeinderat des heutigen Kirchorts St. Kunigundis. Als Wilhelm an der Tür seines Hauses läutet, öffnet dessen Ehefrau Anna. Sie erzählt, dass sie mit ihrem Mann bei einer Veranstaltung der Initiative Maria 2.0 gewesen sei, die im Kirchort St. Andreas stattfand. „Uns hat das interessiert. Und es hat uns gefallen“, sagt sie dazu.
Im Auto geht es weiter durch die Straßen im Osten von Kassel. Die Gemeindereferentin hält vor einem Haus. „Der Mann hier trauert, hat vor kurzem seine Frau verloren“, sagt Wilhelm, bevor sie aus dem Auto steigt. Der Ruheständler kommt aus dem Haus, begrüßt die Seelsorgerin auf der Treppe. Er freut sich sichtlich über die kurze Stippvisite. Jemand fragt, wie es ihm geht …
Zwei Kerzen, ein Psalm und ein paar Gedanken – dann die Kommunion
Anders als bei den bisherigen Spontanbesuchen ist Anna Wilhelm bei Margaretha Gonnermann angemeldet. In ihrem Wintergarten ist schon alles für den Besuch der Gemeindereferentin vorbereitet. Die 83-Jährige war 25 Jahre in der Seniorenarbeit der Pfarrei St. Kunigundis aktiv. „Sie war sehr engagiert“, lobt Wilhelm ihren ehrenamtlichen Einsatz. Gonnermann erinnert sich gern: „Wir haben mit fünf Personen angefangen. Das ist dann aber kräftig angewachsen. Einmal kam eine Frau und sagte: ,Ich möchte gern mitmachen, bin aber evangelisch.‘ Ich sagte zu ihr: ,Durch die Tür und rein!‘ “
Wilhelm feiert auch hier mit Margaretha Gonnermann einen Gottesdienst im Kleinen. Sie hat die Kommunion mit dabei. Zwei Kerzen, die die Seelsorgerin anzündet, stehen auf dem Tisch. Vor dem Empfang der Eucharistie trägt sie einen Psalm und einen Text aus dem Johannesevangelium vor, verbunden mit einigen ausdeutenden Gedanken.
Gute Gedanken finden sich auch in Wilhelms Wochenbrief. Zurück im Auto legt sie ein Exemplar bereit. Für das Ehepaar Klingebiel. Anna Wilhelm steigt aus und wirft den Brief in den Kasten. Margot Klingebiel kommt für ein Schwätzchen auf den Balkon. Sie war 33 Jahre Vorsitzende des Kirchenchors von St. Kunigundis. Nun orientiert sie sich mehr in die Pfarrei im nahegelegenen Landwehrhagen, das bereits zum Bistum Hildesheim gehört. Anna Wilhelm besucht auch dort ältere Menschen im Seniorenheim.
Zu den täglichen Autofahrten zählt auch das häufige Aus- und Einsteigen. „Das spüre ich manchmal im Rücken“, sagt die Gemeindereferentin. Aber deshalb ihren Tagesablauf ändern? Nein. „Ich will Menschen begegnen, für sie da sein. Das heißt für mich Seelsorge.“
Von Hans-Joachim Stoehr