Sie überlegen noch? Hier sind die Argumente
Das Ethik- Eck: "Ist Wählen Christenpflicht?"
Die Frage lautet diesmal: „Am 26. September ist Bundestagswahl. Ist Wählen Christenpflicht?“
Ein Mittel
Ist wählen gehen Christenpflicht? Ich denke, ja. Aber nicht erst Christenpflicht, sondern schon Menschenpflicht, um einen Staat zu fördern, der Menschsein im Vollsinn ermöglicht und nicht beeinträchtigt. Beim gottgläubigen Menschen – sei er Christ, Jude oder Muslim – kommt hinzu, dass diese Verpflichtung nicht nur auf das menschliche Miteinander und das allgemeine Wohl, sondern auch auf die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen und des Menschen nach Gott hingeordnet ist.
Ignatius von Loyola formuliert in seinen „Geistlichen Übungen“ das so genannte „Prinzip und Fundament“ (EB 23). Da heißt es sinngemäß: Der Mensch ist auf Gott hin geschaffen, um ihn zu loben, ihm zu dienen und ihn zu verehren und so sein Heil zu finden. Die anderen Dinge auf Erden sind dazu geschaffen, dem Menschen auf dieses Ziel hin zu helfen. Es gilt also alle Dinge dieser Welt als Mittel auf dieses letzte Ziel hin zu gebrauchen.
Wählen zu gehen ist nach „Prinzip und Fundament“ ein Mittel. Auch der Staat ist nur ein Mittel. Das letzte Ziel des Menschen dagegen ist es, seine Geschöpflichkeit auf Gott hin zu leben, zu seiner Ehre und zum Heil aller Menschen. Ein Staat sollte für Christen und Gläubige anderer theistischer Religionen so beschaffen sein, dass der Mensch dieser seiner Bestimmung auf Gott hin folgen kann. Wohl gemerkt: Kann – nicht muss. Wird der Staat aus religiös fundamentalistischen Gründen dazu benutzt, Menschen in eine bestimmte Ausrichtung zu zwingen, verletzt der Staat das Recht Gottes am Menschen, in Freiheit von ihm geliebt zu werden. Der Staat kann den Menschen in seiner Beziehung zu Gott auf verschiedene Weise fördern: durch Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, den Schutz der menschlichen Würde etc. Damit er den Menschen auf Gott hin fördert und nicht hindert, und damit er sich nicht in totalitärer Weise zum Selbstzweck und Götzen generiert, ist es Pflicht jedes gläubigen Menschen, dementsprechend von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Es wäre eine interessante Frage, ob die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus darüber hinaus nicht noch einen speziell christlichen Zugang zum menschlichen Gemeinwesen ermöglicht und erfordert. In der Ausübung bürgerlicher Grundrechte sehe ich aber erst einmal mehr Gemeinsamkeiten mit Gläubigen anderer monotheistischer Religionen.
Privileg
Diesmal geht es um was, den Eindruck haben viele. Von Wechselstimmung ist die Rede. So viele wesentliche Fragen, so viele Aufgaben, die sich stellen, so vieles, was alle betrifft. Wetter – Klima – Friedenssicherung – leidende Wälder – Pandemie …
Was soll da vom Wählen abhalten?
Verdruss, Skepsis, Pessimismus. Es ist schwierig, Pläne, Versprechen und Geleistetes zu beurteilen. Mit was war ich wirklich zufrieden? Wird nachher eingehalten, was vorher angekündigt wurde? Was geschieht mit meiner Stimme, wenn nachher über Koalitionen verhandelt wird? Machen die dann sowieso, was sie wollen?
Es wäre so viel leichter, wenn es eindeutiger wäre. Das hier ist richtig, die Position dort ist falsch. Die ist glaubwürdig – dem kann man nicht trauen. Muss es immer so kompliziert sein? Leider ja.
Es ist naheliegend, dass vielleicht keine Partei genau das abbildet, was ich wichtig finde. Und so ganz sicher bin ich mir selber in vielem ja auch nicht. Es gibt keine eine Wahrheit, die alles trifft. Es ist wie auch sonst im Leben: Kompromisse, so gut wie möglich machen, ausprobieren, Nicht-Eindeutiges aushalten. Und trotz Unsicherheit entscheiden. Vielleicht ist meine Stimme eine Na-Ja-Stimme, eine Hoffentlich-geht-es-in-die Richtung-Stimme.
Aber einmischen, teilnehmen, sich kümmern, das ist lebendig und hält lebendig.
Es gibt in der Psychologie die schöne Formulierung vom „Gut-Genug“ (statt perfekt). Es geht da um den Erziehungsanspruch an Mütter und Väter. Lässt sich leicht auf Beziehungen allgemein übertragen. Keine Perfektion, sondern gut genug sein, genug angestrengt, engagiert. Das reicht.
Alles nur ganz richtig machen zu wollen, ist nicht nur superanstrengend, sondern wird auch schnell inhuman.
Lässt sich vielleicht auch auf das soziale Gefüge insgesamt übertragen. Die Wahlstimme kann ein Baustein sein: Ich bin dabei. Andere bringen ihre Überzeugungen ein, wir kümmern uns gemeinsam.
Wir dürfen wählen, uns einmischen, dabei sein. Und das Einbringen kann weitergehen. Ist mir Umwelt und Klima besonders wichtig, gibt es ganz viele Möglichkeiten, sich zu engagieren. Möchte ich da und dort keine Veränderung haben, kann ich mich genauso kümmern. Bürgerengagement dafür – dagegen – überall. Wunderbar! Pflicht? Oder vielleicht eher Recht und noch eher Privileg? Und hoffentlich Lust, sich einzumischen.
Gemeinwohl
Die Legitimität von politischer Herrschaft beruht nach demokratischem Verständnis auf dem Verfahren freier Wahlen. Die Ausübung von Macht wird damit zurückgebunden an den Willen derjenigen, die als Bürgerinnen und Bürger staatliche Gesetze zu befolgen haben.
Wählen ist Ausdruck der Idee politischer Selbstbestimmung einer Gemeinschaft.
Im geregelten Turnus von Wahlen haben sich die Regierenden dem Votum der Wählerinnen und Wähler zu stellen, weil sie ihre Tätigkeit ohne deren mehrheitliche Zustimmung nicht fortsetzen können. Wahlen sind das demokratische Instrument, Machtwechsel gesetzlich geordnet und friedlich herbeizuführen. Politische Freiheit realisiert sich in demokratischen Wahlen.
Jede und jeder ist durch das Wählen Mitglied eines Wir, das sich selbst regiert. Herrschaft, die sich freien Wahlen entzieht, missachtet das Recht eines jeden Menschen, sich frei immer wieder gegenüber politischer Herrschaft verhalten zu können. Demokratie ist daher Ausdruck des Respekts vor menschlicher Autonomie. Eine demokratische Verfassung ist eine Staatsform, die der Würde des Menschen gerecht wird.
Die Stabilität von Demokratien basiert darauf, dass das Wahl-Verfahren, das die Legitimität politischer Herrschaft
begründet, Anerkennung findet. Was es bedeuten kann, wenn diese Anerkennung
verweigert wird, hat das Verhalten des letzten amerikanischen Präsidenten demonstriert.
Würde eine Mehrheit der Bevölkerung das Wählen als Verfahren in Frage stellen, würde die demokratische Idee implodieren. Wer Herrschaft anders als auf dem Wege von Wahlen legitimieren will, missachtet auf autoritäre Weise die gleiche Freiheit der Menschen.
Nach diesen Überlegungen wird meine Antwort auf die mir gestellte Frage nicht überraschen: Ja – sich an Wahlen zu beteiligen halte ich für eine moralische Pflicht. Wer wählt, übt ein wertvolles Freiheitsrecht aus. Weil auch Chris-tinnen und Christen Freunde der Freiheit sein sollten, gilt diese Überlegung auch für sie.
Die Erfahrungen mit den menschenverachtenden Terror-Regimen des 20. Jahrhunderts haben in der katholischen Kirche zu einer Wertschätzung der Demokratie geführt; auch wenn man ein explizites Bekenntnis weder auf dem Konzil noch im Katechismus findet.
Vom Prinzip des Gemeinwohls aus, das in der katholischen Sozialverkündigung eine große Rolle spielt, lässt sich leicht eine Brücke zum Wählen schlagen, denn jenseits politischer Freiheiten ist ein Gemeinwohl nicht zu denken.
Das Stimmrecht auszuüben ist – unter anderem neben dem Zahlen von Steuern – als Mitverantwortung für das Gemeinwohl nach kirchlicher Lehre daher eine sittliche Pflicht.