Der Mensch als soziales Wesen
Das Ich und das Du
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“, spricht Gott im Schöpfungsbericht der ersten Lesung dieses Sonntags. Ein kurzer Satz mit einer zentralen Botschaft: „Der Mensch ist ein soziales Wesen“, sagt Notker Wolf.
Von Ulrich Waschki
Gott und Natur reichen dem neu geschaffenen Menschen nicht, er braucht seine Artgenossen. Diese menschliche Sehnsucht fasst der Bibeltext in Worte. „Ich will ihm eine Hilfe machen“, sagt Gott folgerichtig. Doch hätte er es nicht auch anders fügen können? Für den emeritierten Benediktinerabt und geistlichen Schriftsteller Notker Wolf eine eher theoretische Frage: Nur Gott, Natur und ein einzelner Mensch? „Das wäre ja eine traurige Angelegenheit“, sagt Wolf mit einem Schmunzeln.
Der Mensch ist eben kein Einzelgänger. Selbst die Eremiten, die es aus dem Kloster in die Einsamkeit zieht, müssten sich vorher in der Gemeinschaft bewähren und auch lernen, sich selbst auszuhalten. „Gerade in der Pandemie haben wir ja gemerkt, wie wichtig Gemeinschaft ist“, sagt Notker Wolf. Erst zusammen mit anderen, von ihnen bereichert, aber auch herausgefordert, entwickelt sich ein Mensch. Kinder und Jugendliche brauchen zunächst ihre Familie, dann Altersgenossen und Freunde, um ihre Persönlichkeit zu bilden und zu reifen. „Das Ich entwickelt sich erst durch das Du“, zitiert Wolf den Philosophen Martin Buber.
Vertrauen schenken, um Vertrauen zu ernten
Die Botschaft der Lesung: Wir sind aufeinander angewiesen. „Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch“, sagt der Mensch im biblischen Text – Mann und Frau sind also eins, gehören untrennbar zusammen. Notker Wolf berichtet von alten Ehepaaren, mit denen er oft zu tun hat: „Es ist schön zu sehen, wie sie miteinander reifen.“ Dabei besteht eine Ehe nicht aus lebenslangen Flitterwochen: „Die Ehe ist kein Honigschlecken.“ Es gibt auch Zeiten, in denen die Partner an der Ehe arbeiten müssen. Zeiten, in denen es schwer ist, die zur Prüfung werden.
Wolf erzählt von einem alten Mann, der seine demente Frau pflegt. „Dadurch komme ich erst richtig zu mir“, habe der Mann gesagt; er habe begriffen, was die Ehe bedeutet, aber auch, wozu er in der Lage ist. Aus Liebe. „Die Liebe macht Vieles möglich“, sagt Wolf. Erst die Liebe, die mich befähigt, mich selbstlos zu verschenken, ohne Nutzenabwägung und Hintergedanken Dinge zu tun, mache das Menschsein aus. Die Liebe ist schließlich auch die Kraft, die mir hilft, mich zu verändern. Das ist der tiefe Sinn, wenn Menschen ihre Partnerin oder ihren Partner „die bessere Hälfte“ nennen.
Die Lesung bezieht sich ausdrücklich auf die Liebe zwischen Mann und Frau: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch.“ Doch auch außerhalb einer Ehe finden Menschen Gemeinschaft und Erfüllung. „Es braucht nicht immer die Intimität der Liebesbeziehung“, sagt Wolf. „‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, ist die Zusammenfassung der zehn Gebote.“ Und diese selbstlose Liebe kann man auch in Freundschaften praktizieren, oder auch im Kloster. Wichtig ist, anderen zu vertrauen. „Wer kein Vertrauen schenkt, wird auch kein Vertrauen ernten.“ Das gilt in Beziehungen, Freundschaften, aber auch am Arbeitsplatz.
„So viele Menschen sind Eigenbrötler und selbstbezogen. Die tun sich schwer, wenn im Alter rundherum die Bäume fallen“, sagt der Benediktiner. So hart es klingt: Wer keine Gemeinschaft erlebt, kein soziales Netz hat, ist als Mensch nicht vollständig. Wolfs Rat: „Man muss die Menschen mögen. Man muss auf sie zugehen.“ Kinder tun das ganz selbstverständlich, selbst, wenn sie sich überhaupt nicht kennen.
Wolf erinnert sich an einen Konflikt, den er als Abtpräses in einem Kloster schlichten wollte, um die Gemeinschaft zu retten. In Einzelgesprächen traf er die verbliebenen Mönche. „Keiner interessiert sich für mich“, hätten diese geklagt. Er habe zurückgefragt: „Für wen interessierst du dich denn?“ Selbstbezogenheit, so Wolf, führe in die Einsamkeit. Die Augen offen zu halten für andere, Kontakt zu suchen, sich für den anderen zu interessieren, hilft zur Gemeinschaft. Dazu muss ich selbst aktiv werden. „Der Herrgott ist kein Kindermädchen. Wir müssen uns selbst auf die Socken machen.“ Mit einem Griff zum Telefon vielleicht oder mit einem Brief.
Eigene Erfahrungen bereichern die Beziehung
Bei aller Sehnsucht nach Gemeinschaft gilt es aber ebenso, Einsamkeit auszuhalten. Immer wieder gibt es im Leben solche Phasen. Auch das gehöre zum Menschsein, sagt Wolf. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ bedeutet ja auch, sich selbst zu kennen. Dadurch wird ein Mensch zur ganzen Persönlichkeit, die in Freundschaft und Beziehung etwas einbringen kann. So rät etwa Papst Franziskus in seinem Schreiben „Amoris laetitia“ Eheleuten, auch unabhängig voneinander jeweils eigene Erfahrungen und Anregungen zu sammeln, etwa durch die Lektüre eines guten Buches, um damit die Beziehung zu bereichern.
Selbst aktiv zu werden, ist Wolfs Rat, um zu viel Einsamkeit vorzubeugen. Rechtzeitig Beziehungen zu pflegen, damit sie im Alter tragen. Doch auch das hat Grenzen. Wenn Freunde und Verwandte gestorben sind, die Kinder weit weg wohnen, wird die Botschaft der Lesung zur schmerzhaften Realität. „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist.“ In Zeiten der Einsamkeit bleibt dann nur noch der Blick auf Gott. „Ich finde Geborgenheit, indem ich weiß, ich bin nie alleine, denn Gott ist bei mir“, sagt Notker Wolf.