Teil 1 unserer Fastenserie zu Tugenden
Das Kluge ist das Gute
Mit welchen Leitlinien kommen wir weiter gut durch die Corona-Krise? Welche Maßstäbe geben uns Orientierung für ein anständiges Leben? Die klassischen christlichen Tugenden können Wegweiser sein. Die Fastenserie stellt sie vor.
Von Hubertus Büker
Vom Satiriker Kurt Tucholsky stammt der Ausspruch: „Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwerer.“ Eine süffige Pointe. Allerdings bedeutet Klugheit hier offenbar so viel wie Cleverness, wahrscheinlich gepaart mit Intelligenz und Bildung. Was nicht unbedingt schaden muss. Aber sich dumm zu stellen, kann ja nicht als vorbildliches Verhalten durchgehen, oder?
Das Kluge ist das Gute. So lautet ein ganz entscheidender Grundsatz im christlichen Verständnis der ersten der vier sogenannten Kardinaltugenden. Und das ist schon mal ein echter Hammer.
Denn gemeinhin gilt als klug, was nützlich ist. Sich dumm zu stellen, zum Beispiel, mag als Ausrede bestens funktionieren: „Ich kann nichts dafür. Das habe ich nicht gewusst.“ Die Ausrede wird vielleicht sogar akzeptiert. Schön für mich. Doch das ändert nichts daran, dass ich wider besseres Wissen falsch gehandelt habe. Oder gar nicht. Gut ist das nicht, also auch nicht klug.
Natürlich kann ich die Kinder in diesen langweiligen Corona-Tagen so viel daddeln lassen, wie sie wollen. Dann nerven sie mich weniger. Natürlich kann ich in meiner Partei eine Intrige anzetteln, weil ich nur so verhindern kann, dass ein unfähiger Mensch den wichtigen Posten kriegt. Natürlich kann ich mir mit Schwarzarbeit ein Zubrot verdienen, weil ich sonst kaum über die Runden komme, und mein Auftraggeber freut sich ebenfalls, weil er ordentlich Geld spart.
Alles das aber ist nicht vereinbar mit der anspruchsvollen Tugend der Klugheit: Sie fordert, dass ich mich für das Gute entscheide und es zu verwirklichen suche. Umgehe ich das Gute, handle ich nicht klug. Punkt.
Ich muss bereit sein, mir etwas sagen zu lassen
Und es bleibt strapaziös. Klug kann nur vorgehen, wer die Wirklichkeit kennt – ein weiteres Gebot der christlichen Tugendlehre. Und ein sehr aktuelles, weil sich nicht erst seit Corona das Lügen und Leugnen und Verfälschen so sehr breitgemacht hat.Corona existiere gar nicht. Sei nicht gefährlicher als eine Grippe. Sei das Produkt einer Verschwörung. Nur ein paar wenige Beispiele dafür, dass Menschen die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen oder bewusst ausblenden. Ein Kardinalfehler, vollkommen unvereinbar mit der Kardinaltugend der Klugheit.
Betrachte ich den Zustand meiner Ehe, meiner Familie, meines Freundeskreises genau oder lüge ich mir in die Tasche? Mache ich mir Sorgen um den Klimawandel oder halte ich das für ein Modethema, das demnächst wieder vergessen sein wird? Ist es nun mal der Lauf der Zeit, wenn meine Kirchengemeinde langsam, aber sicher dahinsiecht, schade, aber nix zu machen?
Die Tugend der Klugheit verlangt, die Realität so wahrzunehmen, wie sie ist – und dann aber auch mit Verstand die nötigen Beschlüsse zu fassen. Wenn ich die Wirklichkeit ignoriere, ziehe ich gar keine oder die falschen Konsequenzen. Doppelt unklug. Wenn ich die Wirklichkeit klar sehe, aber unbesonnen oder unschlüssig reagiere, dann ist das allenfalls halb klug, sprich: ganz unklug.
Und noch eine letzte Zumutung. Wenn ich mich um die Tugend der Klugheit bemühe, muss ich bereit sein, mir etwas sagen zu lassen. Kann sein, dass dies manchen Leuten ganz besonders schwerfällt. „Fass nicht auf die Herdplatte“, mahnen wir kleine Kinder, „die ist heiß.“ Sie tun es trotzdem. Weil man, wie die Alltagsweisheiten verkünden, nur aus Erfahrung klug wird. Oder aus Schaden.
Freilich sind Erwachsene oft nicht besser. Auf den Kollegen hören, der einem so unsympathisch ist? Den Rat der Nachbarin befolgen, die zu allem und jedem ihren Senf dazugeben muss? Die Argumente von Politikern der falschen Partei ernsthaft prüfen? Doch, doch, das alles sollte tun, wer den Willen zu echter Erkenntnis besitzt. Auch wenn es große Überwindung kostet. Jedenfalls ist Unbelehrbarkeit eindeutig nicht klug.
Sich dumm zu stellen, mag manchmal klug sein
Ja, wer sich in dieser Fastenzeit vornehmen sollte, in der Tugend der Klugheit (und der anderen Tugenden, mehr darüber in den nächsten Wochen) zu wachsen, hat ein hartes Programm zu bewältigen. Sechs Wochen ohne Alkohol oder Süßigkeiten sind dagegen ein Kinderspiel.
Andererseits ist es gewiss klug, nicht zu streng mit sich zu sein. Um noch einmal an das Tucholsky-Zitat anzuknüpfen: „Also, wat is en Dampfmaschin’?“, fragt Lehrer Bömmel in der „Feuerzangenbowle“. Und beginnt seine Erklärung mit dem Satz: „Da stelle mehr uns janz dumm.“ Nein, es ist nicht in jedem Fall verwerflich, sich dumm zu stellen. Zum Beispiel nicht, um etwas so zu erklären, dass alle es verstehen, auch die vielleicht etwas minderbegabten. Das Ziel ist gut, der Weg zum Ziel auch – zweifellos ein kluger Mann, dieser Bömmel.