Auf ein Wort
Das Kreuz und der Esel
Vor kurzem war ich wieder einmal für eine Auszeit im Schweigekloster. Abends nach dem gesungenen Vespergebet gibt es dort eine Stunde Stille vor dem Kreuz. Das ist für mich immer eine besondere Zeit. Die Gedanken gehen in die Tiefe. Diesmal hat mich das Kreuz besonders berührt, vor dem wir – die Schwestern und die Gäste – saßen, knieten oder ausgestreckt lagen. Wie verrückt ist das, dachte ich. Wir beten den Sohn Gottes an, der an einem Hinrichtungsbalken hängt und stirbt. Ich musste an dieses antike Graffito aus Rom denken: Jesus als Esel am Kreuz. Ein Spottbild.
Jesus zieht auf einem Esel in Jerusalem ein. Jesus stirbt wie ein Verbrecher am Kreuz. Wir haben uns an diese Geschichten und Bilder aus den biblischen Passionen gewöhnt. Aber eigentlich ist das ein absurder Gedanke. Ein absurder Gott. Da kommt der göttliche Messias nicht wie ein mächtiger König oder Feldherr daher, auf einem hohen Ross. Sondern auf einem mickrigen Eselfohlen. Und als es eng wird vor Pilatus und Herodes, da ruft Jesus, der Christus, nicht die himmlischen Heerscharen herbei. Sondern lässt sich ans Kreuz schlagen.
Was heißt das für uns, die wir das Kreuz verehren? Das hab ich mich gefragt in meiner Stunde Stille vor dem Kreuz. Vielleicht: Es ist in Ordnung, mich als Christin auch mal zur Eselin zu machen. Mich als naiv oder Gutmensch beschimpfen zu lassen. Und es ist notwendig, mich an die Seite derer zu stellen, die heute – durch Ausbeutung, Kriege oder Klimakrise – vom Tod bedroht sind.