Beistand in den letzten Lebensstunden

Der letzte Herzschlag

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EKG
Nachweis

Foto: imago/dreamstime

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Der letzte Herzschlag im Elektro-Kardiogram.

Ein sterbender Mensch liegt im Bett, ein Angehöriger sitzt daneben. Und fürchtet sich davor, dass das Herz aussetzt und der Tod eintritt. „Diese Angst kann ich nicht löschen“, sagt Krankenhausseelsorgerin Elisabeth Frenke. Aber sie kann dabei bleiben.

Vor einigen Wochen wurde Elisabeth Frenke in das Zimmer eines Mannes gerufen, der im Sterben lag. An seinem Bett saß seine Schwester. „Sie hatte Angst vor dem Moment, in dem er stirbt. Sie wusste nicht, was sie dann machen sollte“, sagt Frenke, Krankenhausseelsorgerin in den Christophorus-Kliniken in Coesfeld. „Bei ihr kamen all die Erinnerungen und Gedanken an den Tod ihres Ehemannes wieder hoch. Sie hatte Angst vor dem einen Moment, wo ihr Bruder noch atmet, wo sein Herz noch schlägt – und dann nicht mehr.“

Frenke versuchte im Gespräch, der Frau die Angst zu nehmen. Einige Tage, nachdem der Mann gestorben war, trafen sie sich erneut. „Sie sagte mir, das Gespräch habe ihr geholfen. Sie konnte die Situation leichter annehmen“, erzählt Frenke. Ihr Bruder sei friedlich eingeschlafen und sie habe ihn gehen lassen können.

Elisabeth Frenke
Pastoralreferentin Elisabeth Frenke. Foto: privat

Die Angst vor dem letzten Herzschlag begegnet Frenke immer wieder – und es betrifft nicht nur alte Menschen. So begleitet Frenke häufig Familien, deren Kind schwer krank oder schon während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt gestorben ist. Etwa eine Familie, deren 16-jähriger Sohn innerhalb von wenigen Tagen an einer Infektion starb, obwohl er keinerlei Vorerkrankungen gehabt hatte. Oder eine Frau, die ihr Kind kurz vor Weihnachten in der 40. Schwangerschaftswoche verlor. „Das war wie ein plötzlicher Kindstod im Bauch. Niemand konnte das erklären – und die Eltern waren völlig verzweifelt“, sagt Frenke.

Eltern, die so etwas erleben müssen, seien in ihren Grundfesten erschüttert, sagt sie. „Sie haben ein großes schwarzes Loch vor sich und wissen erst mal nicht weiter. Ich möchte Begleitung anbieten. Ich zeige ihnen: Ich bin da und ich renne nicht weg – egal, wie traurig und erschreckend es ist.“

Manchmal begleitet sie Eltern, die nach dem Verlust eines Kindes erneut ein Kind erwarten. „Bei diesen Eltern ist die Angst vor dem letzten Herzschlag riesig. Die Unbeschwertheit, mit der andere Eltern in eine Schwangerschaft starten, ist bei ihnen weg“, sagt Frenke. „Diese Eltern, insbesondere die Frauen, haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Andere schwangere Freundinnen wollen von ihren Sorgen nichts hören und die eigenen Eltern sagen eher: Ach komm, dieses Mal wird das schon klappen.“

Frenke versucht zu helfen: „Oft reicht es schon, die Angst zu benennen. Wenn man diesen schwarzen Tiger einmal ausspricht, ist er schon nicht mehr so unheimlich.“ Manchmal hilft auch etwas Praktisches: Für eine Frau, die nach einer Totgeburt erneut schwanger war, organisierte sie eine Führung im Kreißsaal. „Wir haben das gemeinsam gemacht, die Tür geschlossen und uns dort einfach lange unterhalten: über das tote Kind, die Abläufe damals, ihre Schwangerschaft jetzt und ihre Angst vor der Geburt. Durch das Gespräch konnte sie die schlimmen Bilder in ihrem Kopf ersetzen und neue Erinnerungen schaffen“, sagt Frenke.

„Ich glaube, dass wir begleitet werden“

Und als das Baby geboren worden sei, ein gesunder Junge, sei das eine unglaubliche Freude gewesen. „Jedes Kind ist ein Wunder. Aber Eltern, die eine Tot- oder Fehlgeburt hinter sich haben, kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Es ist total schön, wenn ich dann dazu gerufen werde, um vielleicht einen Segen für das Neugeborene zu spenden“, sagt Frenke.

Oft ist sie auch auf der Station für Frühgeborene. Die Kinder kämpfen um ihr Leben – und die Eltern bangen um jeden Herzschlag. „Das ist richtige Teamarbeit: Eltern, Pfleger, Ärzte tun alles, um die Kinder zu retten“, sagt Frenke. Immer mit dabei sei aber die Angst vor dem letzten Herzschlag, die Angst, das Kind zu verlieren. „Diese Angst kann ich nicht löschen“, sagt Frenke. „Ich kann nur Brücken bauen, selbst Gespräche anbieten oder Gespräche mit Ärzten vorschlagen.“ 

Wenn klar wird, dass ein Kind es nicht schaffen wird, ermutigt sie die Eltern, Wünsche zu formulieren. Soll es noch eine Taufe geben? Oder einen Segen? Sollen die Großeltern oder Geschwisterkinder dazukommen? Wie soll der Abschied vom Kind gestaltet werden?

Dabei spricht sie meist nur wenig von Gott. „Ich will als Mensch für die Familien da sein, weil ich das Gefühl habe, die brauchen jetzt erst mal einen Menschen“, sagt Frenke. Manchmal sprechen die Paare sie auf Gott an: Warum er den Tod des Kindes zulässt? Warum dieses Schicksal ausgerechnet ihre Familie trifft? „In früheren Jahrzehnten hat man dann vielleicht gesagt: Ihr Kind ist jetzt bei Gott. Dort ist es besser aufgehoben als bei ihnen. Aber das ist nicht mein Glaube“, sagt Frenke. „Ich sehe Jesus neben uns stehen und mit uns weinen. Ich glaube, dass wir begleitet werden – erst recht, wenn es uns beschissen geht.“

Kerstin Ostendorf

Zur Person:
Elisabeth Frenke ist Pastoralreferentin und arbeitet als Krankenhausseelsorgerin in den Christophorus Kliniken in Coesfeld und als Beraterin in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung.