NS-Verbrechen in der eigenen Familie
Der Mut des Großonkels

Foto: Benedikt Fleute
Ausgegrenzt, ermordet, vergessen – das Mahnmal zum Gedenken an psychisch kranke NS-Opfer steht am Gertrudenberg in Osnabrück, wo auch Friedrich Weber untergebracht war.
Markus Weber kennt viele Schicksale von Holocaustopfern. Der pensionierte Geschichts-, Politik- und Religionslehrer aus Bad Harzburg ist bei Pax Christi aktiv, schreibt Bücher, hält Vorträge und recherchiert zur lokalen NS-Geschichte. Das Unrecht und die Verfolgten beim Namen zu nennen, damit sie nicht vergessen werden und rechte Strömungen sich nicht breitmachen, das ist dem 67-Jährigen ein großes Anliegen.
Dass ihn diese Spurensuche einmal in die eigene Familie führen würde, damit hatte der passionierte Historiker allerdings nicht gerechnet. Zufällig erhielt er vor einigen Jahren eine alte Gestapokarte mit dem Namen seines Großonkels, Friedrich Weber aus Bissendorf im Osnabrücker Land. Er dachte sich: „Ich schaue mir das mal an“ und nahm Akteneinsicht im Osnabrücker Staatsarchiv – der Beginn einer erneuten schockierenden Reise durch das NS-Unrechtsregime.

Nur vage erinnert sich Markus Weber an die Aussage seines Vaters über seinen Großonkel: „Die haben den eingesperrt, der war verrückt“, hieß es in der Familie. Aber war das wirklich so? Markus Weber recherchierte: Sein Großonkel, ein streng gläubiger Katholik, war vor 1933 in der Zentrumspartei aktiv. Mit der Machtübernahme Hitlers entwickelte er große Ängste, die ihn stark belasteten. „Er fühlte sich in seinem Leben bedroht“, erzählt Markus Weber. Er erfuhr, dass sein Großonkel eine eigene christliche Partei gründen wollte und sein Parteiprogramm sogar an die „Morning Post“ in London schickte. Als Protestaktion ließ er darüber hinaus zwei Holztäfelchen an sein Haus in Bissendorf anbringen – mit einem Text gegen den Frauenarbeitsdienst.
Politische Einstellung: „Fanatisch katholisch“
Die Gestapo wurde auf ihn aufmerksam. Sie beobachteten und verhafteten Friedrich Weber, warfen ihm Heimtücke, Angriffe auf Volk und Staat und schließlich Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit vor. „Fanatisch katholisch“ steht bis heute als politische Einstellung auf der Gestapokarte. Nach psychologischen Untersuchungen kam es 1937 jedoch zu keinem Schuldspruch, sondern zu einer Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt am Gertrudenberg in Osnabrück. „Sein Verhalten war also zunächst kriminalisiert, letztlich aber pathologisiert worden“, erklärt sein Großneffe. Friedrich Weber wurde zwangssterilisiert. Da er von Marienerscheinungen, der Stimme des Erzengels Michael und Wahnvorstellungen berichtete, bekam er darüber hinaus die Diagnose Schizophrenie.
Bis an sein Lebensende 1956 blieb Friedrich Weber in psychiatrischen Anstalten. Als Tischlermeister war er für viele Arbeiten vonnöten, entging daher vermutlich einem Transport in ein Vernichtungslager. Sein Leiden endete jedoch nicht mit Kriegsende, da Zwangssterilisation und psychische Erkrankungen zunächst nicht als typische NS-Verbrechen angesehen wurden. „Diese Urteile wurden erst in den 1980er und 90er Jahren aufgehoben“, erklärt Markus Weber, den das Schicksal seines Großonkels sehr beschäftigt. „Das kommt einem noch näher, wenn es die eigene Familie betrifft“, meint er nachdenklich.
Was war Ursache? Was war Wirkung?
War Friedrich Weber verrückt? Markus Weber vermutet, dass sein Onkel vielleicht schon etwas psychisch krank war. „Aber was ist Ursache, was ist Wirkung?“, fragt er sich. „Gestapobeamte haben ihn mit dem Tode bedroht, er hat sich aus purer Angst versteckt. Das hat was Traumatisches ausgelöst“, ist er sich sicher. Für ihn bleibt sein Großonkel mutig. „In einem kleinen Dorf Schilder aufzuhängen mit öffentlicher Kritik an staatlicher Politik – das ist mutig. Briefe an ausländische Stellen zu schreiben, und zu sagen, wir brauchen eine andere Politik – das ist mutig“, betont er. Aus seinem Glauben heraus habe Friedrich Weber versucht, sich zu wehren – und mit seinem Leben dafür bezahlt.