Stephan Sahm: "Töten ist keine Aufgabe von Ärzten"
An der Seite des Lebens
Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt: Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Aber wer darf dabei helfen? Derzeit diskutiert der Deutsche Bundestag über ein neues Gesetz zum assistierten Suizid. Professor Stephan Sahm, Medizinethiker und Chefarzt, wehrt sich: Töten ist keine Aufgabe von Ärzten. Ein Interview.
Wenn ich unheilbar krank bin oder den Lebensmut verloren habe: Wann darf ich sterben? Kann ich selbst entscheiden darüber? Und: Wer darf mir dabei helfen? Darf mir jemand dabei helfen? – Im vergangenen Jahr hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Ja, es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Derzeit diskutiert der Bundestag darüber, wie er dieses Recht in Gesetzesform bringt. Und: Darf dann jemand helfen beim Sterben? Wer? Und wie? Muss es zuvor eine Beratung geben?
Kritik am Karlsruher Urteil kommt von den christlichen Kirchen. Obgleich einige evangelische Theologen zuletzt gefordert haben, in kirchlichen Einrichtungen, den schwerkranken Menschen mit Sterbewunsch beim Töten zu assis-tieren.
Kritik kommt auch von Medizinern. „Töten“ sei keine Aufgabe der Medizin. Sie lehnen das Herbeiführen des Todes ab. Zu ihnen gehört auch Professor Stephan Sahm, Medizinethiker, Palliativmediziner und Chefarzt am Offenbacher Ketteler-Krankenhaus. Sein neues Buch trägt den Titel „An der Seite des Lebens“. Darin beschreibt er die ethischen Herausforderungen der Palliativmedizin beim Sterben. Fragen an Professor Sahm in der aktuellen Debatte über die Suizidbeihilfe.
Herr Professor Sahm, haben Sie Angst vor dem Sterben?
Niemand kann sagen, wie er empfindet, wenn es so weit ist. Aber im Moment, nein. Zumal mich ein Vertrauen trägt, dass ich danach gut aufgehoben sein werde.
Nicht selten ist es ein Wunsch alter Menschen – auch frommer –, bald sterben zu können. Sie haben ihre Lebensfreude verloren. Beim Gläubigen klingt das dann so: „Herr, hol’ mich heim!“ Beim Menschen ohne christliche Prägung vielleicht: „Jetzt muss Schluss sein. Ich will niemandem zur Last fallen. Und ich habe keine Freude mehr. Das ist doch kein Leben.“ – Können Sie solche Lebensunlust verstehen?
Lebensunlust verstehen kann ich sehr wohl. Das ist ein normaler Vorgang. Es gibt keinen Menschen, der nicht einmal eine suizidale Anmutung erlebte. Das ist das eine. Ich verurteile auch nicht, wenn jemand einen Suizidversuch begangen hat oder gar durch Suizid verstorben ist. Etwas anderes ist es, diese Unlust durch das Angebot, dabei zu assistieren, zu unterstützen. Dies ist fatal. Zumal die Suizidforschung lehrt, dass die überwältigende Mehrzahl der Personen in der Phase vor einer Suizidhandlung ambivalent ist. In dieser Phase macht das Angebot der Suizidassistenz geneigt, dem Impuls zu folgen. Durch das Angebot alleine steigt die Zahl der Todesfälle an Suizid dramatisch über das normale Maß hinaus. Zumal sogenannte Gewaltsuizide dadurch nicht vermieden werden.
Müssen Menschen aushalten bis zum Schluss? Wer entscheidet, wann Schluss sein darf?
Menschen müssen nicht aushalten bis zum Schluss. Denn man muss sich nicht therapieren lassen. Doch Symptome kann man behandeln. Das weiß die Palliativmedizin. Und sei es durch Sedieren in der letzten Phase.
In der Debatte ist häufig die Rede vom „würdevollen Leben“ (und analog vom Sterben in Würde). Wer definiert es? Jeder für sich?
Sterben in Würde heißt noch lange nicht, dass ich die Uhrzeit bestimme, wann Schluss sein soll. Es ist eine ungebührliche Verkürzung des Sterbevorganges, wenn man glaubt, nur durch das „Hand an sich selber legen“ wäre es würdevoll. Das ist irrig. Würdevoll ist, das Sterben in seiner tiefen Dimension als Teil des Lebens zu erfassen, und nicht den Tod hastig herbeiführen.
Selbstbestimmt sterben – und Hilfe zum Sterben ... Hier sitzt das Dilemma. Viele Sterbenskranke bräuchten Hilfe, um ihrem eigenen Leben vor der Zeit/zu ihrer Zeit überhaupt ein Ende setzen zu können. Suizidhilfe. Sie, Professor Sahm, wehren sich vehement dagegen, dass Ärzte da hineingezogen werden. „Töten“ sei „kein Ziel der Medizin“, sagen Sie. Ihre Begründung?
Es gibt keinen medizinischen Grund, Leiden durch Herbeiführung des Todes behandeln zu müssen. Insofern sind die Assistenz beim Suizid und die Tötung auf Verlangen keine Ziele der Medizin. Es wurde schon gesagt: Das Angebot alleine erhöht die Zahl rasant. Mehr Menschen sterben. Und die Mitwirkung bei einer Handlung, die die Sterblichkeit erhöht, kann kein Ziel der Medizin sein. Die Motivation, an der Seite des Lebens zu stehen, hat einen religiösen Grund, der aber säkular einsichtig ist. Religiös gesprochen: Gott ist die Quelle des Lebens, und das sollen wir dankbar annehmen. So sagt es der Psalm 36. In säkularer Sprache lautet dies so: Die Existenz eines jeden Mitglieds der Menschen-Gemeinschaft ist der Nicht-Existenz vorzuziehen. Das ist die Grundlage aller Menschenrechte. Wer diese Grundregel aufgeben will, sollte wissen, dass die Aufgabe dieses grundlegenden Axioms fatale Folgen zeitigte. Dann gibt es keine Solidarität mehr. Das steht hinter der Überzeugung, dass die Herbeiführung des Tötens kein Ziel der Medizin sein kann.
Die große Sorge ist, dass der „Suizid zum Normalfall“ werden könnte. Sprich: Der Druck auf alte und (tod)kranke Menschen steigen würde, ihr Leben zu beenden, wenn sie anderen zur Last fallen oder die Kosten für die Betreuung steigen. Teilen Sie die Sorge?
Ja, diese Sorge teile ich. Wo Tötungshandlungen gesetzlich von Strafe befreit sind, steigt sofort der Druck auf Alte und Kranke. Denn nun muss man sich rechtfertigen, warum man noch am Leben ist. Der holländische Autor Gebert van Loenen hat dies beschrieben. Sein Partner litt an einem Hirntumor. Als er in der letzten Lebensphase auch klagte, hielt man ihm entgegen, das müsse man heute nicht mehr aushalten.
Weit gefährlicher ist es noch auf gesellschaftlicher Ebene. In Kanada ging es wie in Deutschland. Das höchste Gericht hat Tötungshandlungen legitimiert. Jetzt hat das Parlament ausgerechnet, wie viel Geld dadurch am Lebensende im Gesundheitswesen eingespart wird. Und wenn man die Hürden noch etwas weiter senkt, kann man die Kosten weiter senken. Just dies hat das kanadische Parlament jetzt aktuell beschlossen. Der ökonomische Druck ist kein Trugbild. Er ist tödliche Realität.
Was aber tun? In den Gesetzentwürfen, die diskutiert werden, ist von einer Pflicht zur Beratung die Rede. Müsste Sterbebegleitung nicht viel früher im Leben beginnen? Im Sinne einer Aufklärung darüber. Sprich: Was wissen wir denn schon übers Sterben? Haben Sie Ideen, wie sich die damit verbundenen Ängste lindern ließen? Durch Schulklassen-Besuche auf Palliativstationen oder im Hospiz?
Für den Gesetzgeber ist es eine schwierige Situation. Wenn er einer schnellen Zunahme von Tötungshandlungen vorbeugen will, muss er Hürden und Hindernisse aufstellen. Damit schafft er aber genau die Normalität, die er vermeiden will. Denn diesseits dieser Grenze ist es ja dann offenbar doch normal. Übrigens zeigt das auch, welch undifferenzierten Begriff von Normalität das Verfassungsgericht gebraucht.
Und was können wir praktisch tun?
Natürlich gehört es zu jedem Leben, sich auch mit seinem Ende zu befassen. Vorschreiben kann man dies nicht. Es ist Menschenpflicht, Sterbende zu begleiten. Junge Menschen dorthin zu führen, kann sie reifen lassen. Aber übertreiben wir nicht. Sie sollen sich vor allem am Leben freuen. Wir sollten ihnen zum Leben Mut machen, etwa eine Familie zu gründen und Kinder zu kriegen.
Wie ist denn momentan die Versorgung in Deutschland durch stationäre und ambulante Zentren der Sterbebegleitung? Kann sich jede(r) sicher sein, dass ihm im Fall der Fälle möglichst viel Schmerz genommen oder gelindert werden kann? Haben alle Zugang zur Palliativmedizin?
Wir haben in Deutschland eine exzellente palliative Versorgung. Das heißt aber nicht, dass alles Leid verschwindet. Auch Menschen die bestens versorgt sind, empfinden die Not, dass ihr Leben zu Ende geht. Das muss man unterscheiden.
Jeder hat Anspruch auf angemessene Behandlung am Lebensende. Und unser Land ist reich genug, dass die auch jeder erhalten kann. Aber es gilt auch für Pflege und Medizin: Gut ist nie gut genug. Man kann immer besser werden.
Interessantes Phänomen: Der gerade gestorbene Theologe Hans Küng hatte vor Jahren öffentlich kundgetan, er wolle den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen, wenn die Lage und das Leid zu beschwerlich würden. Nun war er in den letzten Lebensjahren in allem auf Hilfen angewiesen. Von dem Wunsch nach Selbsttötung war öffentlich jedenfalls keine Rede mehr. Ein Einzelfall?
Es ist kein Einzelfall. Am grünen Tisch reden gerne viele davon. Dann wird die Selbstbestimmung zu einem Fetisch. Hans Küng war ein sehr kluger Mann. Und es ist leicht zu verstehen, dass er am Ende nicht den assistierten Suizid wählte. Vielleicht wäre das anders, wenn die Menschen, die ihn betreuten, es ihm durch ein Angebot nahegelegt hätten.
Ambivalenz in diesen Dingen ist das Normale. Daraus folgt auch, man muss nicht jeden intellektuell daherkommenden Traktat, der die Assistenz beim Suizid verherrlicht, über die Maßen ernst nehmen.
Von Johannes Becher