Lage in Nahost: Interview mit misso-Präsident Dirk Bingener
„Die Christen helfen allen“
Foto: Hartmut Schwarzbach/missio
Pfarrer Bingener, im Weltmissionsmonat geht es diesmal vor allem um die Not der Menschen in Syrien und im Libanon. Wie haben Sie die aktuelle Situation vor Ort erlebt?
Man sieht viel Verzweiflung und Resignation und kann das auch gut nachvollziehen. Der Libanon steckt seit Jahren in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Dazu kommt die Versorgung von rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, das ist etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Libanon. An vielen Stellen sieht man große Zeltstädte, wo die Menschen zum Teil schon seit 15 Jahren leben.
Und in Syrien?
Die Situation in Syrien ist noch schwieriger, sie ist geprägt von den Auswirkungen des Krieges. Dass da viele jede Hoffnung verlieren, kann man niemandem verdenken. Auch nicht, dass viele lieber heute als morgen das Land verlassen würden. Ein Beispiel: Viele haben gerade einmal 20 US-Dollar im Monat zum Leben – und das sind Leute, die mal einen nahezu mitteleuropäischen Lebensstandard hatten. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Strom gibt es nur eine Stunde am Tag. Also 23 Stunden müssen die Menschen irgendwie überbrücken – etwa mit Stromgeneratoren. Aber mit 20 Dollar im Monat kommen sie da nicht weit. Und das gilt auch für den sozialen Bereich, für Schulen und Kliniken.
Welche Rolle können die Christen da spielen?
Da muss man unterscheiden. In Syrien geht die Zahl der Christen immer weiter zurück, und sehr viele davon haben extrem gelitten unter Aufständischen und Terrormilizen, aber natürlich auch insgesamt durch den langen Krieg. Ein Bischof hat uns davon erzählt, wie man nach dem Abzug der Aufständischen eine Mine unter seinem Bischofsstuhl in der Kirche gefunden hat. Leider ist sie explodiert, ein Mensch kam ums Leben, die Kirche wurde schwer beschädigt. Viele Christen sind geflohen, einige aber bleiben; sie gilt es zu unterstützen.
Und im Libanon ...
... ist die Lage auch schwierig, aber die Christen haben hier traditionell einen ganz guten Stand und prägen den Staat auch mit. Das heißt aber auf der anderen Seite: Wenn hier die Christen auch noch gehen, verändert das den Nahen Osten nachhaltig.
Aber wie können die Christen denn in dieser Extremsituation „Salz der Erde“ sein, wie es im Motto Ihrer Aktion heißt?
Christen haben die Aufgabe, dem Leben der Menschen zu dienen. Und das machen die Christen vor Ort in bewundernswerter Weise – im sozialen Bereich, in der Flüchtlingshilfe, aber auch mit Schulen, Kindergärten, Krankenstationen oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Wenn die Christen dort nicht wären, wäre die Not noch sehr viel größer. Was dabei noch wichtig ist: Sie helfen allen – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Das heißt, wenn die Christen dort Schulen betreiben, betreiben sie die nicht nur für christliche Kinder, sondern auch für Muslime und andere.
Haben sie diese Chance in Syrien auch?
Natürlich ist die Arbeit dort sehr viel schwieriger. Ich habe dort beispielsweise ganz beeindruckende Ordensfrauen erlebt, die auf unterschiedlichste Art den Menschen in Not in ihrer Nachbarschaft helfen. Hier geht es besonders um ganz konkrete Unterstützung von Familien, von Frauen mit ihren Kindern. Wir unterstützen auch eine Musikschule, wo Kinder ein Instrument lernen können – natürlich nicht nur christliche Kinder. In einem Land mit Krieg und bitterer Armut ist Musikunterricht Luxus. Aber Musik verbindet – gemeinsames Musizieren ganz besonders. Zu unseren Projekten gehören aber auch Solaranlagen, um die Energieversorgung insbesondere für soziale Einrichtungen sicherzustellen.
Sie haben schon angesprochen, dass viele Christen in ihrer Verzweiflung über die Lage das Land verlassen wollen. Unterstützen Sie sie dabei? Oder fördern Sie lieber, dass sie vor Ort bleiben?
Das ist eine schwierige Frage. Unser Einfluss ist da begrenzt, denn die Menschen entscheiden ganz individuell – je nach eigener konkreter Situation. In einem Kloster habe ich einen jungen Mann getroffen, der uns erzählt hat, er habe sein Appartement in Damaskus verkauft, um Geld für die Flucht nach Europa zu haben. Wir haben dann über die Gefahren seines Plans gesprochen, er war aber fest entschlossen. Und eine junge Frau sagte mir, sie habe mit ihrer Ausbildung schon Jobangebote aus Europa, doch sie sei überzeugt, dass sie in ihrem Heimatland gebraucht werde. Unsere Projekte wollen dazu beitragen, dass Menschen im Land bleiben. Ich kann aber auch die verstehen, die gehen. Und man darf eins nicht vergessen: Fast alle, die gehen, unterstützen weiter ihre Heimat und ihre Familien, damit die besser über die Runden kommen.
Zum Schluss: Was wünschen Sie sich vom Weltmissionsmonat?
Natürlich möglichst viel Unterstützung für die Projekte. Und ich hoffe, dass Syrien und der Libanon wieder auf den Schirm der Öffentlichkeit kommen und beachtet werden – trotz der vielen anderen Krisen weltweit. Denn wenn die Menschen in Vergessenheit geraten, verlieren sie auch die letzte Hoffnung.