"Alte Mauern, neues Leben": Stiftsruine Bad Hersfeld

Die Krypta atmet noch Sakrales

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„Alte Mauern – neues Leben“: Einmal im Monat führt diese Reiseseite zu Stätten, an denen einst kirchliches Leben blühte. Heute geht es in die Stiftsruine von Bad Hersfeld. Dort beteten über Jahrhunderte Mönche, heute finden in der Ruine der Reichsabtei alljährlich Festspiele statt.



Der Westchor der Stiftsruine. Darunter liegt die Krypta.


Die Bad Hersfelder Stiftsruine ist vor allem aus der Festspielzeit bekannt. Dann ist im Innern der Ruine die Tribüne einschließlich Zeltdach (siehe „Zur Sache“) aufgebaut. Unter der Vierung und im Querschiff befindet sich die Bühne.
Michael Adam ist Stadtführer. Er trägt ein Mönchskostüm – passend zur eins-tigen Abtei. Auf der schwarzen Kutte ist ein rotes Doppelkreuz aufgenäht. Es steht für die Reichsabtei Hersfeld, die nur dem Kaiser und dem Papst unterstellt war. Die Kutte nutzt er gern für seine Führungen. Mit dabei ist auch Annelie Hopt von der Gesellschaft „Freunde der Stiftsruine“
Adam schließt das große Portal im Ostchor des einstigen Sakralbaus auf. Die Dimensionen sind riesig. In der Länge misst die Ruine 102,80 Meter, das Querschiff ist 55 Meter breit, die größte Höhe liegt bei 25 Metern. Zum Vergleich: Der Fuldaer Dom misst in der Länge 99 Meter, der Mainzer Dom ist 116 Meter lang.
Unter dem ehemaligen Westchor war die Krypta. Adam zeigt auf eine Ecke. „Dort gibt es noch Teile der karolingischen Basilika aus dem neunten Jahrhundert“, erläutert er. Für Annelie Hopt birgt die Krypta am stärksten den sakralen Charakter des Ortes.
Anders als der Zuschauerraum ist die Bühne nach oben offen. „Dann werden die Bretter, die die Welt bedeuten, nass und glitschig“, erklärt Adam. Er weiß, wovon er spricht. „Ich singe im Chorverein. Und der stellt Komparsen bei den Festspielen.“
Gern erinnert sich Adam an Aufführungen des Stücks „Der Name der Rose“, das auf dem Roman von Umberto Eco basiert. „Das passte ideal zu der Klos-terruine.“ Adam wünscht sich, dass der mehr als 25 Meter lange Chorraum als Bühne mitgenutzt wird. „Da bieten sich doch tolle Möglichkeiten.“
Der Führer im Mönchsgewand zeigt auf einen romanischen Chorbogen in der Wand, die die Kirchenruine mit dem noch erhaltenen Flügel des einstigen Klosterbaus verbindet. „Das war der Zugang für die Mönche zum Stundengebet“, erklärt Adam. Und er stellt die Frage, wie die Mönche im Dunkeln am frühen Morgen lesen konnten. Kerzen waren teuer. Die Lösung: Die Mönche taten etwas Wachs und ein Stummelchen Docht auf den Nagel des Daumens und zündeten das an. Adam: „Da kommt die Redewendung her: Mir brennt etwas auf den Nägeln.“
Doch wie kam es, dass aus dieser Abtei, einem der größten Kirchbauten nördlich der Alpen, die größte Kirchenruine der Welt wurde? Grund war der Siebenjährige Krieg (1756 bis 1763). Einer der Kriege, den der „Alte Fritz“, König Friedrich II. von Preußen, und die österreichische Kaiserin Maria Theresia miteinander ausfochten.
Der hessische Landgraf, in dessen Gebiet damals Bad Hersfeld lag, war mit Preußen verbündet, die Franzosen mit Österreich. Es waren französische Truppen, die Bad Hersfeld besetzten und in der seit Beginn des 17. Jahrhunderts leer stehenden Stiftskirche ein Lager einrichteten. Der 3000 Quadratmeter große Kirchenraum bot ausreichend Platz für Strohballen oder Mehlsäcke. Vor allem das Mehl beziehungsweise dessen Staub sollte eine verheerende Wirkung entfachen.
Vorrückende feindliche Truppen machten es den Franzosen unmöglich, das Lager in der ehemaligen Abtei rechtzeitig zu räumen. Damit nicht alles in die Hände der preußischen Verbündeten fiel, befahl Marschall Victor-François de Broglie, die Vorräte anzuzünden. Mit Folgen: „Durch das Feuer explodierte der Mehlstaub – wie Dynamit“, erklärt Michael Adam Bis auf den heute noch erhaltenen Ostflügel wurde die Abtei bis auf die Grundmauern zerstört.
Michael Adam zeigt auf den Ostchor, neben dem der Südturm aufragt. Gegenüber klafft eine Lücke. Dort stand einst ebenfalls ein Turm. Er stürzte gegen 1100 ein. „Man richtete den Turm wieder auf, aber er stürzte erneut ein. Das nahmen die Leute als Fingerzeig Gottes. Sie errichteten den Turm an einer anderen Stelle – als Campanile“, erläutert Adam. Inzwischen wurde die Ursache für die Einstürze herausgefunden. Unter den Fundamenten verlief eine Wasserader.
Auch die Nordwand des Kirchenschiffs musste abgestützt werden. Die Streben sind die einzigen gotischen Elemente an der sonst romanischen Kirche. Adam weist darauf hin, dass 106 Jahre – von 1038 bis 1144 – an der Stiftskirche gebaut wurde: „Also fünf bis sechs Generationen an Mönchen und Handwerkern.“ 

 

ZUR SACHE
 

Festspiel-Zeltdach
„1967 hat es in der Festspielsaison ununterbrochen geregnet“, sagt Stadtführer Michael Adam. Grund genug, sich Gedanken über einen Schutz vor dem Nass von oben zu machen. Die Idee: Ein überdimensionaler Regenschirm. Da das Klostergelände dem Land gehört, gab es eine Bedingung dafür: Die Konstruktion darf das Kirchengebäude nicht berühren.
Die Konstruktion erstellte der Architekt Frei Otto. Wem der Name bekannt vorkommt: Er hat auch die Zeltkonstruktion des Olympiageländes in München entworfen. In Bad Hersfeld hat Frei Otto eine 1400 Quadratmeter große Plane entwickelt, die an einem Mast befestigt ist und durch ein Seilsystem getragen wird, das mit Elektromotoren aus- und eingefahren werden kann. Michael Adam ist überzeugt: „Wenn Frei Otto nicht vorher hier geübt hätte, wäre das in München nichts geworden.“
Brauwasser
Die Fulda kam als Vorfluter zur Wasserversorgung der Abtei nicht in Frage. Dafür aber der Meisebach, der im Winter zum „wilden Wässerchen“ wird. Dieser Bach wurde ins Stift umgeleitet. Das kühle Nass diente vor allem als Brauwasser. Wegen der Bakterien durfte man es nicht direkt trinken. Trinkbar war hingegen das im Kloster gebraute Bier. Der Pro-Kopf-Konsum lag bei fünf Maß pro Tag. Allerdings hatte es deutlich weniger Alkohol als heutige Biere. (st)

Von Hans-Joachim Stoehr