Gespräch über das Leben in Israel nach dem Hamas-Überfall

Die Mehrheit will friedlich leben

Plakate Hamas- Geiseln

Foto: imago/ecomedia/Robert Fishman 

Allgegenwärtig: Seit dem 7. Oktober erinnern in ganz Israel Plakate an die Menschen, die von der Hamas als Geiseln genommen wurden.

Fast ein Jahr liegt der Überfall der Hamas auf Israel zurück. Noch immer sind Geiseln in der Hand der Terroristen. Im Norden des Landes droht der Konflikt weiter zu eskalieren. Kann man da überhaupt noch auf Frieden hoffen? Fragen an den deutschen Theologen Till Magnus Steiner, der in Jerusalem lebt.

Herr Steiner, wie prägt der Überfall der Hamas auf Israel vor einem Jahr Ihren Alltag heute?

Die Bilder der Geiseln und die Forderung „Bringt sie zurück!“ sind allgegenwärtig. Die Lage in Jerusalem ist zum Glück relativ ruhig. Meine Kinder gehen normal in die Schule und in den Kindergarten. Wir treffen Freunde, gehen auf Spielplätze und auf Konzerte. Dennoch ist es ein sehr anderer Alltag seit dem 7. Oktober. 

Was heißt das? 

Die Bestialität dessen, was am 7. Oktober geschehen ist, ist eine offene Wunde im Bewusstsein der Gesellschaft – ein Trauma, das im Angesicht des Krieges und der zunehmenden Eskalation noch gar nicht aufgearbeitet werden konnte. Das Gefühl der Grundsicherheit ist verloren gegangen. Der Glaube, dass wir uns auf die Verteidigungskräfte verlassen können und Terroristen nicht schutzlos ausgeliefert sind, ist erodiert. Zudem wächst das Misstrauen im Alltag gegenüber Palästinensern, während gleichzeitig auch das Misstrauen gegen die eigene Regierung zunimmt. Wöchentlich demonstrieren Hunderttausende Israelis gegen ihre Regierung, fordern deren Rücktritt und einen Deal mit der Hamas, der die Geiseln aus den Händen der Terroristen befreit.

Till Magnus Steiner
Till Magnus Steiner. Foto: privat

Die Regierung lehnt das bisher ab.

Sowohl die Hamas als auch die israelische Regierung lehnen die bisher vorgeschlagenen Waffenstillstandsabkommen ab. Die israelische Regierung hat am Anfang des Krieges als ein Ziel festgelegt, dass die Hamas vernichtet werden muss, damit sich der 7. Oktober nicht wiederholen kann. Doch nun besteht ein Dilemma. Ist die Vernichtung der Hamas oder die Befreiung der Geiseln wichtiger? Aufgrund dieser und vieler anderer Fragen driftet die Gesellschaft immer weiter auseinander. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen, ob die liberale Demokratie und damit auch wir hier eine Zukunft haben. 

Was bekommen Sie mit von der Situation in Gaza? 

Wir sehen die Bilder des Leids und der Zerstörung. Die im Gazastreifen regierende Hamas ist eine Terrororganisation, die sich nicht um ihr Volk kümmert. Sie hat das Ziel, solange zu kämpfen, bis Israel vernichtet ist – und Israel wird so lange den Krieg im Gazastreifen führen, bis die Hamas vernichtet ist. Was gerade passiert, ist die Vernichtung der Zukunft der Menschen im Gazastreifen. 

Das klingt sehr ernüchternd. Haben Sie dennoch Hoffnung auf eine bessere Zukunft? 

Wenn man nüchtern die Realität betrachtet, verliert man schnell die Hoffnung. Und trotzdem lebt sie – vor allem im Alltag. Man darf nicht vergessen, dass viele muslimische und christliche Palästinenser israelische Staatsbürger sind. Als Israelis dienen sie in der Armee, sind Unternehmer oder Parlamentsabgeordnete in der Knesset. Selbst in diesen Kriegszeiten gibt es ein noch funktionierendes Miteinander der Menschen. Meine Tochter geht auf eine Schule, in der jüdische, christliche und muslimische Kinder gemeinsam unterrichtet werden. 

So eine Schule ist ja nicht der Normalfall …

… aber es gibt sie mitten in Jerusalem. Für die Kinder ist es selbstverständlich, Arabisch und Hebräisch zu lernen. Für sie ist es selbstverständlich, dass sie zusammen die Feiertage von allen drei Religionen feiern. Das klingt unglaublich romantisch und kitschig. Aber es hilft nicht, wenn man nur das Leid und die Zerstörung im Gazastreifen und die Siedlergewalt in der Westbank sieht. Es gibt in Israel, und davon bin ich fest überzeugt, eine Mehrheit von Menschen, die friedlich leben wollen. 

Wie könnte der aktuelle Konflikt enden?

Es gibt zwei Szenarien. Das erste wäre ein Geiseldeal. Wenn die Hamas-Führung den Gaza-Streifen verlassen und die Geiseln freilassen würde, wäre das Leid des Krieges von einem Tag auf den nächsten beendet – und auch die Hisbollah und die Huthi würden keine Raketen mehr auf Israel schießen. Es gäbe zwar keinen Frieden, aber Ruhe würde einkehren. 

Und das zweite Szenario? 

Der Raketenbeschuss durch die Hisbollah nimmt täglich zu, Israels Vergeltungsschläge werden immer drastischer. In Israel wird darüber diskutiert, zum Schutz der Bürger eine Bodenoffensive in den Süden Libanons zu beginnen, um eine Pufferzone zu errichten – somit gäbe es einen zweiten Krieg. 

Wann packen Sie und ihre Familie die Koffer?

Es kann auch hier in Jerusalem alles unglaublich schnell eskalieren. Man sieht jetzt schon, wie auch die Gewalt im Norden der Westbank zunimmt. Aber es kann auch alles unglaublich schnell wieder ruhig werden. Im Alltag glaube ich fest daran, dass eine andere Realität möglich ist. Sie können das als Utopie bezeichnen, aber solange wir diese Utopie in unserem Alltag sicher leben können, bleiben wir hier.

Ulrich Waschki

Zur Person: 
Der deutsche Theologe Till Magnus Steiner lebt seit 2014 in Jerusalem. Er ist mit einer jüdischen Israelin verheiratet. Das Paar hat zwei kleine Kinder.