Der Theologe und Philosoph Martin Breul über Wissen, Ehrfurcht und den stets größeren Gott

Die Rätselhaftigkeit des Seins

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„Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen ... Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, wer ergründet, was im Himmel ist?“ Das Buch der Weisheit weiß um die Begrenztheit des menschlichen Forschens. Und das bleibt auch in Zeiten richtig, in denen unsere Forschung sehr ambitioniert ist und wir tief weit in den Himmel zu blicken vermögen, sagt Martin Breul im Interview.

Foto: imago/Xinhua
Das neue Teleskop ermöglicht erstmals Bilder von der Geburt von Sternen, die uns weit zurückführen in die Entstehung des Alls und den Ursprung von allem, was ist. Foto: imago/Xinhua

Professor Breul, die NASA hat jüngst spektakuläre Fotos vom James-Webb-Weltraumteleskop publiziert. Es zeigt Galaxien, deren Licht 4,6 Milliarden Jahre gebraucht hat, bis es auf der Erde angekommen ist. Was haben Sie gedacht, als sie die Bilder gesehen haben?

Ich habe ein Gefühl von Erhabenheit und Ehrfurcht gespürt. Ich war fasziniert von der für uns Menschen kaum fassbaren, immensen räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des Alls und auch von der Schönheit der Schöpfung.

Laut König Salomo hat Gott das All durch sein Wort geschaffen. Was bedeutet das theologisch: durch sein Wort?
 

Wort im griechischen heißt Logos. Die Schöpfung wird im Christentum als Sprechakt Gottes verstanden. Es ist aber wichtig zu sagen, dass dies keine Konkurrenzhypothese zur Urknall- oder zur Evolutionstheorie ist. Die Rede von Schöpfung zielt eher auf eine Weltakzeptanz. Wie der Mensch seine eigene Existenz verstehen kann, wie sehr sein Dasein als Geschenk von Gott gewollt ist. In der Theologie geht es um eine andere Wirklichkeit als in den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen.

Von welcher Wirklichkeit sprechen Sie?

Angesichts der unendlichen Weite des Weltraums erscheint die Erde als Staubkorn. Dem Universum ist es vielleicht egal, wie ich mich in meinem kurzen Leben verhalte. In der Bibel dagegen steht die existenzielle Dimension des menschlichen Daseins im Fokus, die Beziehungen, die wir führen. Es geht um das, worauf es im Leben wirklich ankommt, etwa um die Liebe, nicht um Vergängliches wie Spaß oder Besitz zum Beispiel. Und es geht um eine göttliche Wirklichkeit, die die sichtbare Welt noch einmal umfasst und sich weniger in Weltraumbildern zeigt als vielmehr in unseren menschlichen Grunderfahrungen.

Salomo zufolge hat Gott „den Menschen durch deine Weisheit bereitet“. Wie wiederum ist das zu verstehen? 

Der Mensch ist das Ebenbild Gottes, aber er ist nicht Gott selbst und somit Logos, so wie Jesus Christus es war. Dennoch steht jeder Mensch zu Gott in einer ganz besonderen Beziehung. Das soll durch diese Rede von der Weisheit ausgedrückt werden.

Wie würden Sie das Verhältnis von Weltall und Mensch skizzieren?

In der Astronomie erscheinen Erde und Mensch als klein und unbedeutend. Doch bereits Immanuel Kant hat gesagt, dass Raum und Zeit nur Anschauungsformen, also gewissermaßen Hilfsmittel des menschlichen Verstandes sind, um uns einen Reim auf die Komplexität der Welt zu machen. Übersetzt auf die Theologie könnte man sagen, Gott ist Schöpfer von Raum und Zeit. Aber er selbst ist weit mehr als ein raum-zeitlich ausgedehntes oder begrenztes Wesen. Gott wird man auch mit dem schärfsten Weltraumteleskop nie erfassen, geschweige denn erblicken können. 

Wissenschaftler berichten, dass es im Raum vollkommen still wurde, als ihnen die Bilder vom Webb-Teleskop gezeigt wurden. Von Mystikern wissen wir, dass Gott in der Stille spürbar ist, Gott selbst vielleicht die Stille ist. Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Ich kann nicht beurteilen, inwiefern der Anblick der Weltraumfotos für die Anwesenden eine religiöse Erfahrung war. In der Theologie aber gibt es zwei große Linien, wie man Gottes Gegenwart erfahren kann. Da sind zum einen die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie sich Gott im anderen Menschen zeigt, in Freundschaften, in der Liebe. Die zweite große Linie ist die Mystik, die Stille, die Versenkung. Und da denke ich durchaus, dass die Bilder vom Weltall ebenso wie der Anblick einer atemberaubenden Berglandschaft oder des Meeres bei manchen Menschen eine Transzendenzerfahrung auslösen können. 

In seinem Gebet um Weisheit betont Salomo: „Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, und finden nur mit Mühe, was auf der Hand liegt; wer ergründet, was im Himmel ist?“ Wie interpretieren Sie die Aussage im Licht unseres recht neuen Wissens um die Entstehung des Weltalls und des Lebens?
 
Natürlich ist es beeindruckend, was die Naturwissenschaft in den vergangenen Jahren herausgefunden hat. Aber die grundlegende Rätselhaftigkeit des Alls, des Seins wird damit nicht aufgelöst. Und genau das macht die Faszination der neuen Bilder aus, dass man schnell an die Grenzen des eigenen Verstands kommt. Selbst wenn man das Teleskop irgendwann so scharf einstellen könnte, dass man den Urknall sieht, bliebe die Frage, was war davor, unbeantwortet. Genau wie die Frage, was ist jenseits des Raums, also des Weltalls, das sich permanent ausdehnt. Ich denke, dass uns Salomo auf diese prinzipielle Begrenztheit des menschlichen Verstehens aufmerksam machen wollte. Eine letzte Gewissheit in metaphysischen Fragen bleibt dem wissenschaftlichen Blick auf die Welt eben doch verschlossen.

Salomon sagt, „der vergängliche Leib beschwert die Seele“. Heißt das übersetzt, dass wir wegen unseres irdischen Daseins Gott kaum erfassen können?
 
Theologen sprechen gerne von der materiellen Bedingtheit der eigenen Existenz. So wird der Mensch, selbst wenn er das von ganzem Herzen wollte, niemals selbstständig fliegen können. Der Mensch wird auch nie alles verstehen können, was er gerne verstehen würde. Zugleich kann der Mensch nur als leibliches Wesen gedacht werden. Und in diesem irdischen Leib werden wir Gott immer nur bedingt erfassen können.

Was genau meint König Salomo damit, wenn er vom Himmel spricht?
 
Der Himmel ist eine Metapher für das Sein bei Gott. Also ein Ausdruck dafür, dass wir Christen darauf hoffen, dass es nach dem irdischen Leben auf transformierte Art und Weise weitergeht mit der eigenen Existenz, dass es ein personales Fortbestehen gibt. Und genau dies wäre nach den bisher erkannten Naturgesetzen nicht möglich. Das kann nur Gott. 

Das Gespräch führte Andreas Kaiser

Foto: privat
Martin Breul lehrt Systematische Theologie an der Universität Dortmund. Foto: privat