Bahnhofsmissionen droht Schließung

Ein neues Loch im sozialen Netz

Image
Bahnhofsmission
Nachweis

Foto: imago/Funke Foto Services

Caption

2,2 Millionen Kontakte zu Hilfesuchenden hatten die Mitarbeiter der Bahnhofsmissionen im vergangenen Jahr.

Im Sommer musste die Bahnhofsmission in Gießen nach 100 Jahren schließen, weil der Diakonie das Geld zum Unterhalt fehlt. Der Fall zeigt, wie sehr kirchliche Einrichtungen und Angebote zukünftig unter Druck geraten, wenn Einnahmen aus Kirchensteuern sinken.

Rund 50 Gäste haben die Gießener Bahnhofsmission täglich besucht. Es waren Reisende, aber auch Wohnungslose oder Flüchtlinge, die dort Hilfe suchten. Sie hatten Fragen zu ihrer Zugverbindung oder benötigten Unterstützung beim Umstieg. Oder sie wollten sich einfach bei einem Kaffee und Brötchen aufwärmen und wünschten sich ein nettes Gespräch. Die Bahnhofsmission in Gießen war ein Ort, an dem Menschen unkompliziert und schnell geholfen wurde – doch damit war Ende August Schluss. 

Der Grund ist das Geld: Bislang konnte die Diakonie als Träger mit 100 000 Euro aus staatlichen Lottomitteln die Bahnhofsmission in Gießen unterstützen. Aufgrund von massiven Einsparungen ist das nicht mehr möglich. Die Mittel werden nun für die verbandliche Arbeit benötigt, um etwa Beratungsleistungen für soziale Einrichtungen aufrechterhalten zu können. Und die Zuweisungen aus Kirchenmitteln reichen schlicht nicht mehr aus, um alle Projekte auskömmlich zu finanzieren.

„Das Problem vieler Bahnhofsmissionen ist die Art und Weise der Finanzierung“, sagt auch Josef Lüttig. Er ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der katholischen Bahnhofsmission und des ökumenischen Vereins Bahnhofsmission Deutschland. „Etwa 50 Prozent der Mittel, die für Bahnhofsmissionen zur Verfügung stehen, bestehen aus kirchlichen Eigenmitteln. Wenn die wegbrechen, kann ein Standort sehr schnell gefährdet sein.“

„Die Kirchen werden zukünftig Prioritäten setzen müssen“

In der Regel werden Bahnhofsmissionen von der evangelischen und katholischen Kirche finanziert: von der Diakonie und den evangelischen Landeskirchen, vom katholischen Fachverband In Via und von örtlichen Caritasverbänden. Hinzu kommt finanzielle Unterstützung der Kommunen. Die Deutsche Bahn stellt meist kostenfrei Räume für die Bahnhofsmission zur Verfügung. 

„Für Bahnhofsmissionen gibt es aber keine Leistungsentgelte, wie etwa in anderen caritativen Bereichen“, sagt Lüttig. Die ambulante Pflege oder Altenheime lebten zu einem großen Teil von Geld des Staates oder von Sozialversicherungen, wie etwa der Pflegeversicherung. „Das gibt es für die Bahnhofsmission nicht“, sagt Lüttig, der viele Jahre als Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Paderborn arbeitete. „Wie gefährdet ein Standort ist, hängt also davon ab, wie finanziell leistungsfähig die Träger sind.“

Und die geraten immer stärker unter Druck – auch weil immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten und weniger Kirchensteuermittel zur Verfügung stehen. „Die Kirchen werden zukünftig schauen müssen, was noch finanziert werden kann. Sie werden Prioritäten setzen müssen“, sagt Lüttig. Er mahnt, dass die Kirchen dann genau prüfen, was gefördert wird. „Es wird eine Nagelprobe, ob Kirche auch in Zukunft da ist, wo Menschen sind und wo Menschen sie brauchen: Bleiben wir in unseren kirchlichen Gebäuden oder gehen wir dahin, wo die Menschen uns brauchen, wo sie ankommen, wo sie schlicht und ergreifend in Nöten sind?“

Lüttig hat gerade die Bahnhofsmissionen als einen solchen Ort erfahren. „Hier zeigt sich viel menschliches Leid. Das ist doch die Aufgabe der Kirchen, hier zu helfen.“ Dabei sei die Bahnhofsmission nicht nur ein sozialer Dienst. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legen sehr viel Wert darauf, auch ein kirchlicher Dienst zu sein – vielleicht sogar noch stärker als manch andere Einrichtung“, sagt Lüttig. Er erlebte, wie Gebete, Gesänge und auch kurze Wortgottesdienste ein wichtiger Teil der Zusammenkünfte in den Bahnhofsmissionen sind. „Niemand wird dabei ausgeschlossen. So können auch Menschen dem christlichen Glauben begegnen, die sich anders oder nicht religiös gebunden wissen“, sagt Lüttig. 

Gespräche für einen Neuanfang in Gießen

In Gießen will der Verein der Bahnhofsmissionen nun gemeinsam mit der Kommune, der Bahn und ehemaligen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schauen, wie ein Neuanfang aussehen könnte. Es soll einen Runden Tisch geben. „Allen soll deutlich werden, was passiert, wenn die Bahnhofsmission auf Dauer ersatzlos wegfällt“, sagt Lüttig. Der Anstoß dazu kam auch von den Ehrenamtlichen. „Das zeigt doch: Hier ist eine Energie. In Gießen scheitert es momentan an der Finanzierung, nicht an den Menschen.“

Pläne für weitere Schließungen von Standorten gebe es momentan nicht, sagt Lüttig. Ihm ist es wichtig, rechtzeitig von finanziellen Engpässen zu erfahren. „Nur dann gibt es die Chance, den Standort vielleicht noch zu sichern“, sagt Lüttig. Gemeinsam mit allen Akteuren könne man dann über notwendige Veränderungen nachdenken, um eine Bahnhofsmission mittelfristig zu sichern. „Oder zumindest um Zeit zu gewinnen, um neue Finanzierungsstrukturen zu prüfen“, sagt Lüttig. 

Denn er ist überzeugt, dass die Bahnhofsmissionen in Zukunft noch dringender gebraucht werden. „Mit der notwendigen Verkehrswende wird die Bahn zum Verkehrsmittel der Zukunft – und die Bahnhöfe werden noch stärker als bisher zu Sozialräumen. Hier treffen Menschen aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten aufeinander. Unsere Aufgabe wird noch wichtiger werden.“

Kerstin Ostendorf