Klaus Jost und sein Buch "Papa im Schuhkarton"

Eine Kindheit in der Nachkriegszeit

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Schildert seine Kindheit: Klaus Jost
Nachweis

Foto: Ruth Lehnen

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Erinnerungen an die Kindheit im Krieg und Nachkrieg: Klaus Jost. 

Klaus Jost war fünf Jahre alt, als er seinen Vater endlich kennenlernte. Der Vater kehrte erst 1949 aus der Gefangenschaft in die Heimat zurück und war für seine beiden Söhne ein „fremder Mann“. Klaus Jost, heute 78, berichtet von seiner Kindheit in Frankfurt-Sachsenhausen im Buch „Papa im Schuhkarton“. Von Ruth Lehnen

Die Offenbacher Familie Jost
Mutter Elly mit ihren Kindern Helmut (links) und Klaus, 1947 Foto: privat

 Der kleine Klaus ist allein zuhaus, die Mutter hat den Schlüssel hinter sich im Schloss umgedreht. Als Alleinerziehende der Nachkriegszeit kann sie ihre beiden lebhaften Jungen nicht ständig beaufsichtigen. Klaus weiß sich aber zu beschäftigen. Er klettert gern am Küchenmöbel hinauf, denn dort oben steht das Ziel seiner Phantasien und Wünsche: ein Schuhkarton mit Familienbildern. Besonders interessiert ihn sein Papa: Er weiß zwar, dass er einen hat, aber gesehen hat er ihn noch nicht. Papa sei im Krieg, hat er gehört, aber der Krieg ist doch  vorbei?      
Nun betrachtet er die Schwarz-Weiß-Fotos genau, stapelt alle Fotos, auf denen er den Papa erkennt. Ein merkwürdiges Gefühlsgemisch erfasst ihn bei diesem Spiel: Er ist traurig, muss weinen. Der Mutter wird er es nicht sagen! Die hat eh so viele Sorgen!      
2022: Aus dem kleinen Klaus ist Dr. Klaus Jost geworden, 78 Jahre alt. Er ist Diplompsychologe, verheiratet, hat lange an der Universität Frankfurt am Main an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie gearbeitet und war später Leiter der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche im Caritasverband Offenbach. Er kennt sich aus mit vielen Erscheinungen seelischer Krankheit oder Bedrückung und sagt von sich: „Manchmal habe ich mehr Einfühlungsvermögen, als mir lieb ist.“  Im Ruhestand ist Zeit. Klaus Jost hatte gar nicht vor, nach diversen Büchern zum Beispiel über Depression, Suizidalität oder Täterbeurteilung ein weiteres Buch zu schreiben. Er hat dem Impuls nachgegeben und der Lust, sich zu erinnern. Diese Lust hat häufiger den Schmerz nach sich gezogen. Am Ende ist es doch ein Buch geworden, mit dem Titel „Papa im Schuhkarton“.

Vater Jost als Soldat
Der Vater als Soldat. Seit 1943 wird er vermisst. Foto: privat

Ein Kinderleben  wird geschildert, das im „Exil“ in Camberg beginnt, die Familie war aus dem ausgebombten Haus in Frankfurt geflohen.  Die Menschen grüßen sich mit „Bleib übrig!“. Die Mutter hat über Jahre keinerlei Nachricht von ihrem Mann, auch dann nicht, als der Krieg vorüber ist. Die Familie kommt notdürftig in einer Mansarde in Frankfurt unter. Es gibt nicht viel zu essen. Klaus erkrankt durch die Mangelernährung und wird mit dreieinhalb Jahren „zur Erholung“ nach Auerbach im Odenwald geschickt, drei Wochen ohne vertraute Bezugsperson – die Folgen dieser „Zwangsverschickungen“ werden erst heute vielfach aufgearbeitet. 1949 das Wunder, auf das die Familie gehofft hat: Der Vater kehrt zurück. Was als größtes Glück imaginiert war, erweist sich als schwierig. Der Mann, der da am Bahnhof ankommt, ist gebrochen durch grausame Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft.      
Ein Leben – so oder ähnlich mag es vielen älteren Menschen ergangen sein. Im Gegensatz zu den meisten von ihnen hat Klaus Jost seine Erinnerungen und Erfahrungen aufgeschrieben, sie dabei nochmals durchlitten, manches bearbeitet und mit Vielem abschließen können. Das Bilanzieren war genau das Richtige: „Es setzt einen in Distanz zu dem, was war“, sagt der Psychologe: „Es hat mir sehr, sehr gutgetan.“ Auf sein Buch hat der Autor schon viele Rückmeldungen bekommen: „Endlich verstehe ich meinen Vater besser“, teilte ihm eine Leserin mit.      
Jost hat seine Erinnerungen mit kurzen Einschüben zu geschichtlichen Fakten versehen, die oft sehr erhellend für die individuell erlebte Geschichte sind. Er schildert sein Leben in gut lesbarer Weise, oft wie mit einem Augenzwinkern, so ernst vieles auch ist, das er beschreibt. Ältere und  jüngere Leser können davon profitieren.

Randsteinkicken und andere Kinderspiele

Ein wunderbares Kapitel ist zum Beispiel das über die Kinderspiele, mit denen sich die Sachsenhäuser Rangen die Zeit vertreiben. Randsteinkicken ... kleine Münzen auf Bahngleise legen und plattfahren lassen ... Oft sind die Jungen der Mutter so lange entwischt, bis sie nachgegeben hat und ein belegtes Brot aus dem fünften Stock nach unten warf. Auch wer wissen will, wie eine Kommunion 1951 aussah, wird hier fündig und mit schönen Anekdoten belohnt.

So entsteht das Bild einer Kindheit, die sich doch sehr von der heutigen unterscheidet. Das Feingefühl des Autors verlässt ihn auch nicht bei den traurigen Details seiner Kindheitserzählung. Zum Beispiel das Fräulein Goldmann: Sie hieß eigentlich anders, war ursprünglich die Mieterin der Mansarde in Sachsenhausen gewesen. Als sie nicht wieder auftaucht, können Klaus, sein Bruder und seine Mutter den begehrten Wohnraum nutzen. Die Mutter hofft nun, dass Fräulein Goldmann endgültig wegbleibt. Genauer nachgefragt wird nicht, und vom Verbleib des wohl jüdischen Fräuleins wird nachher eine Geschichte erzählt, die wohl nicht wahr ist, aber allen in den Kram passt.

Zum Beispiel Helmut, der sieben Jahre ältere Bruder. Er ist in vieler Hinsicht die Kehrseite der Medaille zum später erfolgreichen Dr. Jost. Vom Krieg geprägt, vaterlos, ist er schon früh mit seinen Freunden auf den Frankfurter Straßen unterwegs, ist eine Art „Ersatzmann“ für die Mutter und kann zum „fremden Vater“ keine Beziehung mehr aufbauen. Er raucht und trinkt, er scheitert und stirbt viel zu früh. Beim Schreiben wird dem Autor klar: „Mein Bruder hatte viel schlechtere Karten als ich“.      
 

Klaus Jost
Dr. Klaus Jost, 1944 geboren, ist Diplompsychologe. In seinem Buch erinnert sich der Seligenstädter an seine Kindheit in Frankfurt. Foto: Ruth Lehnen 

Zum Beispiel das Elend, das Klaus Jost im von Kapuzinern geleiteten Internat in Dillingen an der Donau erlebt. Er führt die von den Schülern geführte „Hitliste der Schläge“ als unangefochtene Nummer 1 an und erlebt die Pein, auf das nackte Gesäß geschlagen zu werden, in größter Verwirrung. „Eine merkwürdige Mischung aus Herrschsucht, Sadismus, vorgegebener Güte und klerikalem Hochmut“, so fasst es der Autor zusammen. Die „völlig überfällige“ Aufarbeitung solcher Vorfälle begrüßt er sehr. Berührend ist, wie Klaus Jost schildert, dass er zu seinem Vater am Ende doch noch Nähe empfand, auf die er gar nicht mehr gehofft hatte. So hat er sein Buch dem Vater gewidmet: „in Dankbarkeit, dass wir uns nicht verloren haben.“

Von Ruth Lehnen

Klaus Jost: Papa im Schuhkarton. Aufwachsen zwischen Krieg und Frieden. Biografische Erzählung. lehmanns media, 270 Seiten, 12,95 Euro

 

 

Ruth Lehnen