Ukraine: Interview mit Weihbischof Volodymyr Hruza

„Eine Umarmung hilft mehr als viele Worte“

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Trauer in der Ukraine
Nachweis

Foto: Pressestelle der Erzdiözese Lwiw UGKK

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Unermessliches Leid. 

So viele Kriegstote hat Volodymyr Hruza beerdigen müssen, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. Im Interview erzählt der griechisch-katholische Weihbischof von Lwiw, wie er ihre Angehörigen tröstet – und wie er ihnen hilft, mit ihrer Trauer zu leben.

Wie viele Kriegstote mussten Sie seit Russlands Einmarsch in die Ukraine beerdigen?

Ich zähle das nicht. Was ich sagen kann, ist: In unserer Stadt Lwiw gibt es kaum einen Tag, an dem kein Soldat beerdigt wird. Meistens sind es mehrere am Tag. Wenn ich von den Militärkaplänen gebeten werde und die Möglichkeit habe, gehe ich zu den Beerdigungen immer mit. Das ist mir als Seelsorger wichtig. 

Was genau ist bei den Beerdigungen wichtig?

Erstens ist mir das gemeinsame Gebet für den Verstorbenen wichtig. Und zweitens ist es mir wichtig, bei der Familie zu sein. Sie hören und verstehen in ihrer Trauer nicht immer, was ich sage, das ist klar. Aber dennoch sind diese Beerdigungen für sie ein erster Schritt auf dem Weg zu Heilung. Sie haben danach eine Grabstätte, zu der sie gehen und wo sie trauern können. Oft denke ich sogar: Beerdigungen sind ein Triumph des Lebens. 

Warum?

Weil viele junge Leute zu den Beerdigungen kommen, Kinder und Jugendliche. Sie kommen, um zu trauern und Mitgefühl auszudrücken – aber auch, um zu zeigen, dass sie eine Zukunft haben wollen und dass man ihnen diese Zukunft nicht wegnehmen darf. Und sie kommen, weil sie spüren: Dieser gefallene Soldat ist ein Held, er hat sein Leben gegeben, damit wir leben und dieses Land gestalten können. Und wir dürfen jetzt auf keinen Fall nach Hause gehen und in Depression versinken. Denn wenn wir in Depression versinken, haben wir den Krieg schon verloren. Dann sind wir tot. Und das wollen die Gefallenen nicht.

Volodymyr Hruza
Volodymyr Hruza, Weihbischof von Lwiw, bei einer der zuletzt unzähligen Beerdigungen. Foto: Pressestelle der Erzdiözese Lwiw UGKK

Wie versuchen Sie den Menschen Hoffnung zu schenken?

Ich spüre oft, die Gemeinde braucht in ihrer Ohnmacht und Ratlosigkeit Orientierung: Wie geht es weiter? Wie gehen wir mit diesem Tod um? Ich bringe bei Beerdigungen immer einen spirituellen Impuls. Und ich erzähle etwas aus dem Leben des Verstorbenen. Einmal musste ich einen jung verstorbenen Vater beerdigen. Die Angehörigen hatten mir erzählt, sein Traum war, seinem Kind ein besonderes Spielzeug zu schenken. Er hatte das versprochen. Ich habe bei der Beerdigung zu dem Kind gesagt: „Dein Vater wird dir noch etwas schenken. Etwas sehr Schönes. Warte nur! Er ist jetzt dein Engel, dort oben im Himmel.“ 

Sie wollen den Menschen Kraft geben weiterzuleben, oder?

Ja. Und mir ist wichtig, dass mein Auftrag mit der Beerdigung nicht abgeschlossen ist. Damit beginnt erst der lange Weg für die Familie und die Angehörigen. Die anderen Priester und ich betreuen sie auf diesem Weg.

Wie?

Wir sind sehr oft auf dem Militärfriedhof hier in Lwiw. Dort sind immer Leute, von morgens bis abends. Sie sitzen da, pflegen die Gräber, pflanzen Blumen. Und wenn sie gehen, küssen sie das Bild des Verstorbenen auf dem Kreuz. Wir sprechen mit diesen Menschen. 

Erzählen Sie!

Einmal bin ich einer Mutter am Grab ihres Sohnes begegnet. Sie hat mir erzählt, ihr Sohn habe ihr gesagt: „Wenn ich gefallen bin, darfst du auf keinen Fall weinen.“ Und sie hat gesagt: „Das Begräbnis habe ich durchgehalten. Aber jetzt, am Grab, darf ich weinen.“ Ein paar Schritte weiter standen zwei junge Mädchen. Ich bin zu ihnen gegangen und habe sie gefragt, ob wir kurz miteinander beten wollen.

Und? Wollten sie das?

Ja, bei dieser Frage sagen eigentlich alle: „Ja, bitte“. Und nach dem Gebet fangen die Menschen dann an zu erzählen, was sie belastet und beschäftigt. Ich habe die zwei Mädchen gefragt: „Wer ist dieser Gefallene für euch?“ Die eine sagte: „Er ist mein Verlobter.“ Sie hat nicht gesagt: „Er ist mein Ex-Verlobter.“ Auch das ist für mich ein Triumph des Lebens: wenn ich spüre, die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten ist da. 

Was machen Sie, wenn Sie merken, da ist jemand untröstlich?

Dann umarme ich die Menschen. Das ist sehr wichtig. Eine Umarmung hilft mehr als viele Worte. Ich komme dabei in Kontakt mit den Menschen, ich berühre ihre Wunden. Oft sage ich ihnen auch: „Danke für Ihren Mann! Danke für dieses Opfer, das er gebracht hat! Wir denken an Sie im Gebet – und wir sind bei Ihnen!“ Ich glaube, das ist es, was sie brauchen. 

Haben Sie sich im Laufe des Krieges an all die Beerdigungen gewöhnt?

Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich kann nicht sagen: Na, Gott sei Dank musste ich heute nur einen Soldaten beerdigen – gestern waren es drei. Denn jedes Leben ist wertvoll. Jedes Opfer bringt so viel Schmerz. Und bei jedem Verstorbenen ist es wieder neu meine Aufgabe, die Angehörigen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz zu begleiten.

Wie wirkt eine Beerdigung bei Ihnen nach?

Natürlich sind Beerdigungen auch für mich sehr emotional. Aber oft werde ich durch sie interessanterweise eher gestärkt – weil ich sehe, wie stark die Menschen am Grab sind. Klar, sie weinen und sind traurig. Aber sie sind da, halten ihren Schmerz aus – und versuchen sogar, andere zu trösten. Das ermutigt mich, weiterzuleben und weiterzuarbeiten in dieser schrecklichen Zeit – und jeden Tag zu nutzen, um etwas Gutes zu tun.

Andreas Lesch

Zur Person:
Er ist den Lebenden nah und auch den Toten: Volodymyr Hruza, Weihbischof von Lwiw.