Manchmal eine Frage des Blickwinkels

Ganz arm dran

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„Wie geht es Ihnen?“ Nicht jeder hat Lust, auf diese Frage ehrlich zu antworten: „Mir geht es schlecht.“ Es gibt ja immer Menschen, denen es noch schlechter geht. Arm dran oder gut drauf? Das ist auch eine Frage des Blickwinkels. Andreas Hüser.

Vor einigen Jahren war ich mit einer Gruppe von Seelsorgern in Indien. Eine Woche lang hatten wir Station gemacht in einem katholischen Bildungshaus in der Stadt Nagpur. Das Haus lag am Rande der Stadt. Dort standen sonst keine Häuser mehr. Trotzdem lebten auf dem freien Feld Menschen. In einiger Entfernung hatte sich eine ganze Familie ihren Lebensraum mit einer Mauer aus Leichtbausteinen abgegrenzt. Die Mauer war nur kniehoch, so dass man das Familienleben beobachten konnte. Zum Schlafen diente ein aus Plastikplanen geschnittenes Zelt. Daneben befanden sich viele Kochtöpfe, eine Feuerstelle und Haushaltsgeräte. Ich hatte noch nie richtige Armut gesehen und war über den Anblick bestürzt. Oft schaute ich hinüber zu den Menschen in ihrer Mauer, die ihr Schicksal tapfer zu tragen schienen.

Frau mit Kind in Indien Foto: Adobe Stock
Arm aber glücklich? Ein Klischee. Trotzdem lohnt sich ein Perspektivwechsel.
Foto: Adobe Stock

Nach einigen Tagen aber – inzwischen hatten wir etwas Ahnung vom Alltag in Indien bekommen – wurde mir klar: Diese Leute waren gar nicht arm! Die niedrige Mauer um ihre Habseligkeiten war der Sockel eines Hauses, das sie sich selbst bauten. Sobald sie genug Geld zusammen hätten, würden sie die nächsten Reihen Steine aufmauern. Und den Sturzregen, der auch außerhalb der Regenzeit gelegentlich auf die Stadt herunterprasselte, den ertrugen die Bauherren klaglos. Vielleicht dachten sie dann schon an das Dach, das sie einmal haben würden.

Armutszonen im Leben – oder nur Baustellen?

Oft denke ich an diese Familie in Indien und ihr Haus, das wahrscheinlich längst fertig ist. Für mich war diese Beobachtung ein Fingerzeig. Guck zweimal hin, wenn du Armut antriffst, auch im eigenen Leben! Vielleicht liegt gerade in dieser Armut ein Reichtum. Natürlich gibt es Armut, die bedrohlich für Leib und Seele ist, wo es keinen Weg in die Zukunft gibt. Aber davon sind die wenigsten von uns betroffen.

Kann es sein, dass gerade dort, wo wir arm dran sind, ein versteckter Reichtum liegt? Dass das, was wir als Not und Mangel empfinden, eigentlich nur eine Baustelle für etwas Neues ist?
Auch solche Entdeckungen passen zum Programm der Fastenzeit. Sieh nicht nur deine Begrenztheit, deine Schwäche und Fehler und deine unerfüllten Wünsche. Mach dich auf die Suche nach dem Reichtum, der in all deiner Armut liegt!

Nicht alles ist so, wie es aussieht. Und Gott will ständig verwandeln und erneuern. Das Samenkorn muss sterben, damit die Frucht daraus wächst. Das Brot muss gebrochen werden, damit alle Menschen am Tisch davon satt werden. Das Volk muss durch die Sklaverei, um ins gelobte Land zu gelangen. Und einer musste am Kreuz sterben, damit alle das Leben haben.

Diese Verwandlung fängt klein an. Bei den Baustellen in unserem Leben. Wir haben es in der Hand: Wir können das beklagen, was noch nicht fertig ist. Oder wir können anfangen zu bauen. Das Baumaterial wird uns, so Gott will, durch seine Gnade gegeben. An Baupläne lässt sich herankommen. Sie sind uns in Gottes Wort und Gebot gegeben. Alles weitere kann man anpacken.