Passionswanderungen in Hemmingen

Gebet und Gehen, Suppe und Segen

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Die Passionswanderungen in Hemmingen führen seit neun Jahren evangelische und katholische Christen zusammen. Eine andere Form des Kreuzweges.


„Das Kreuz, vor dem wir stehen“: Dieser Liedruf zieht sich durch die drei Stationen der Passionswanderinnen und -wanderer. | Fotos: Wala

Lucia Timpe zieht noch einmal den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. In der Kapelle im Dorfkern vom Hemmingen ist es tatsächlich kälter als draußen. Die letzten Sonnenstrahlen an diesem Märzfreitag haben noch nicht die Kraft, den Raum des kleinen, namenlosen Gotteshauses aus dem  17. Jahrhundert zu erwärmen. Da heißt es zusammenrücken.

Zusammenrücken – das ist auch ein gutes Stichwort für den Ursprung der Passionswanderungen in der ökumenischen Kirchenregion. „Fünf Gemeinden wirken hier zusammen“, erzählt die Katholikin Lucia Timpe – auf evangelischer Seite die Trinitatis-Gemeinde in Hemmingen, St. Vitus in Wilkenburg, die Friedenskirche in Arnum und St. Nikolai in Hiddestorf sowie die Katholische Gemeinde St. Johannes Bosco.
 


Startpunkt ist die Alte Kapelle in Hemmingen. | Fotos: Wala

Die Idee für diese besondere Form der Andacht in der Passion kam 2011 einfach auf, erzählt Lucia Timpe. Dann eine weitere Anregung: Nicht nur zwischen den großen Kirchen wandern, sondern die vielen kleinen Kapellen im Hemminger Land einbeziehen. Und das Kreuz, das die Wanderungen begleitet, war auch einfach da: „Wir haben es bei uns in Johannes Bosco gefunden, keiner erinnert sich mehr, wo es ursprünglich herkommt.“ Jetzt wird auf der Rückseite stets das Jahr der Passionswanderung verzeichnet.
 


Lucia Timpe verhehlt, dass Zusammenrücken manchmal auch nicht einfach ist. Schon allein wegen der unterschiedlichen Traditionen. Wird das Kreuz stets mitgetragen oder nur zum Anfang und Abschluss aufgestellt? Folgen die Stationen entlang der Passionswanderung dem traditionellen Kreuzweg oder werden sie unter ein bestimmtes Thema gestellt? „Darüber sprechen wir immer wieder“, sagt Lucia Timpe. Ökumene entsteht beim Gehen und Gebet.

Die Strecke an diesem Freitag ist vergleichsweise kurz: Etwas über zwei Kilometer. Das Leitmotiv wiegt aber umso schwerer: Es geht um Flucht und Integration, biblisch, geschichtlich und zeitgenössisch.
 


Andacht vor Garagentoren. Die Wanderung führt durch Natur und Siedlungen.

Station eins widmet sich dem Buch Rut aus der hebräischen Bibel aus dem Alten Testament. Es ist die Geschichte der Moabiterin Rut, die ihrer Schwiegermutter nach Jerusalem folgt – auch wenn sie dort aufgrund ihrer Herkunft mit Ablehnung rechnen muss. „Sie vertraut auf Gott und dieser Glaube hilft ihr“, sagt  Inge Hartje. Die Protestantin hat zusammen mit Elke Rumberg die Stationen vorbereitet.

Drei Stationen mit dem „Kreuz, vor dem wir stehen“

Das Vertrauen auf Gott wird auch an der zweiten Station deutlich. Inge Hartje verliest einen Text ihrer Mutter Ilse Rau – die Geschichte ihrer Vertreibung aus Posen im Winter 1945: Klirrender Frost bis minus 25 Grad, die nahen sowjetischen Panzer, der gefürchtete Räumungsbefehl, dann nur drei Stunden Zeit, das Wichtigste zusammenzupacken und auf Pferdewagen zu verladen: „Die Eltern gehen noch mal über ihren Hof zu den Tieren in den Ställen, die Hofhunde bekommen noch ihre Mittagsmahlzeit“, schreibt Ilse Rau viele Jahre nach ihrer Flucht. Die Schlüssel bleiben an den Schränken – damit nichts aufgebrochen wird. Der Abschied von den polnischen Landarbeitern ist kurz und tränenreich. Auf dem Pferdewagen blickt die Mutter von Inge Hartje immer wieder zurück. Das letzte, was sie von ihrem Heimatort sieht, ist der Kirchturm. Und ein Kirchenlied kommt ihr in den Sinn: „... wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht!“

Seine Heimat verlassen hat auch Feras Hjeer. Der Palästinenser ist vor dem Bürgerkrieg aus Syrien geflohen. Er erzählt seine Geschichte bei der dritten Station: Der Weg über die Türkei, der heimliche Grenzübertritt, der mehrfach gescheiterte Versuch über die Grenze nach Griechenland zu kommen. Schließlich gelingt es durch einen Schleuser Italien zu erreichen, erst per Schiff, dann zum Schluss per Schlauchboot: „Da war überall nur Wasser, das war schon beängstigend.“ Schließlich wird er von der italienischen Polizei aufgegriffen. Hjeer reist weiter nach Deutschland, will hier die Sprache lernen und in seinem angestammten Beruf als Krankenpfleger arbeiten: „Das Lernen der Sprache war hart und auch meine Ausbildung musste ich drei Jahre wiederholen.“ Heute ist er verheiratet, hat zwei Kinder – und arbeitet als Intensivpfleger. Eine mutmachende Geschichte zum Abschluss.

„Diese Impulse machen die Passionswanderung so wertvoll“,  meint Regina Kalkmann – vor allem, weil sie gerade in der Bußzeit Hoffnung stiften. Auch der Weg tue ihr gut – in die untergehende Sonne hinein.

Das Ziel ist erreicht: die Kirche St. Vitus. Mit einem Segen in der Dorfkapelle auf den Weg geschickt, erwartet die 20 Frauen und drei Männer nun eine warme Suppe. An der langen Tafel wächst wiederum Ökumene: durch Gebet und Gehen, durch Segen und Suppe.

Rüdiger Wala