Anstoss 11/2018

Gegenpol

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Im akuten Wohnungsmangel in unseren Großstädten stecke jede Menge „sozialer Sprengstoff“, heißt es in einer Studie der Immobilienbranche. Eine „gewaltige Versorgungslücke“ klaffe bei Sozialwohnungen, mahnt sie. Die Lösung: Neubauten. Das Problem: Mangel an Bauland.


Die Baulandpreise ließen bezahlbaren Wohnungsbau in den Ballungsräumen nicht mehr zu. Nur durch zusätzliches Bauland könne es gelingen, spekulative Preisübertreibungen zu bremsen ...
Ich lege den Artikel aus der Hand. Mein Eindruck: Es geht immer nur um Profit. Ich merke wie wenig mir die Lösung durch Neubauten in den Ballungsgebieten einleuchtet. Mein Zuhause im hippen angesagten Reuterkiez in Nord-Neukölln verdichtet mehr und mehr. Da leben viele, erfreulich unterschiedliche Menschen auf engem Raum. Wenn auch tragischerweise langjährige Nachbarn ihr Zuhause verlassen müssen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können, ziehen immer mehr Menschen her, auch in luxussanierte Wohnungen. Der Run auf die Metropole ist gewaltig. Mein Bedürfnis nach Ruhezonen, nach Grünflächen, dem freien Blick zum Himmel und dem Gesang der Vögel, die ihr Nest hinter der Kirche bei den Laubenpiepern haben, auch.  Aber Laubenpieper sind heute bedroht, da sie profitablen Baugrund haben.
Werde ich nun alt? Wir lassen uns mit zunehmender Verdichtung die ruhigen Momente nehmen, zumal wenn alles in Beton gegossen wird. Wie grotesk es doch ist:  Während andere Gegenden Deutschlands menschenleerer werden und veröden, verdichten Ballungsräume immer mehr. Wäre es nicht politisch mutig und klug, den Zuzug auf Ballungsräume auszubremsen? Statt „Zimmer frei“ mal das Schild „Leider belegt!“ raushängen!
„Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft“, heißt es beim  Propheten Jesaja (30, 15). Jesus ging zum Beten gern in die Natur. Er kam gestärkt zurück, um wieder heilend unter den Menschen zu sein. Jeder Ballungsraum braucht als Gegenpol Ruhe und Stille – auch um Krankheiten zu vermeiden. Die Reichen einer Stadt wissen das übrigens. Sie leben oft in der Nähe von Parks und Stadtwäldern. In ihrer Villen-Gegend wird selten verdichtet. Dort sind auch kaum Hochhäuser geplant. Der Gott der Bibel heiligt die Ruhe für alle sogar mit einem wöchentlichen Ruhetag.

Lissy Eichert, Berlin