St.-Annen-Kapelle Bad Münder
Heiligtum unter der Erde
Im Mittelalter war die St.-Annen-Kapelle weit über Bad Münder hinaus ein wichtiger Anlaufpunkt für Pilger. Sie hatte nur eine kurze Blütezeit. Kurz nach der Reformation wurde sie durch die protestantischen Landesherren aufgelöst. Vor ein paar Jahren entdeckte ein Archäologe ihre Grundmauern. Seine Idee, die Kapelle als Denkmal zu nutzen, fand keine Unterstützer. Jetzt ist das Gelände wieder verschüttet.
Längst ist wieder im Sinne des Wortes Gras über die Sache gewachsen. Vor ein paar Jahren allerdings sprach einiges dafür, dass es heute an der Deisterpforte zwischen Springe und Bad Münder einen Archäologischen Park geben könnte. Im Mittelpunkt hätten die ausgegrabenen Reste einer Kapelle gestanden, die im 15. Jahrhundert Pilger in die Gegend südlich von Hannover lockte. Sie hofften auf ein Wunder der heiligen Anna, der Mutter Mariens. Sie beteten vor einem Gnadenbild und sahen in den vergossenen Tränen der Statue ein Zeichen Gottes. Sie wussten nicht, dass sie einem Scharlatan auf den Leim gingen.
Ort des Glaubens für immer verschüttet
Lastwagen auf dem Weg zur Autobahn bremsen vor der Ampel ab, der Berufsverkehr staut sich. Autofahrer, die nach rechts schauen, sehen eine Brachfläche, auf der jetzt im Oktober das trockene Gras mannshoch steht. Wilde Rosen und Holunder wachsen auf der Fläche am Deister. „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, sagt Hermann Wessling. Er erinnert sich allerdings in diesem Moment an Ausgrabungen um die Jahrtausendwende. Für ein paar Wochen sorgten damals die Reste der ehemaligen Wallfahrtskirche für Schlagzeilen in der Lokalpresse. Auf den Titelseiten waren Abbildungen zu sehen, die nach geophysikalischen Untersuchungen des Geländes den Grundriss eines Gebäudes zeigte, das für Zeiten des Mittelalters beachtliche Ausmaße hatte: Fast 30 Meter in der Länge und 11 Meter in der Breite. Wesslings Sohn Roland war im Rahmen seines Studiums der alten Geschichte nachgegangen, hatte sich auf Spurensuche begeben und war im Erdreich tatsächlich auf die Reste der Kirche gestoßen.
Gehen wir gut 500 Jahre in der Geschichte zurück, stoßen wir in Bad Münder auf eine der Stätten im norddeutschen Raum, die Menschen zu Andacht und Gebet versammelte. Entlang einer lokalen Handelsstraße gibt es einen wundertätigen Bildstock, erzählt man sich. Die Pilger kommen in Scharen, hoffen auf Heilung von Krankheiten, spenden reichlich Opfergaben. Bald ist so viel Geld zusammen, dass eine Kapelle gebaut werden kann. Mehr noch: In den Chroniken ist überliefert, dass den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg die stattliche Summe von 7200 Gulden an Kredit gewährt werden kann. Die Gulden werden gerne genommen, aber sie retten die Annenkapelle nicht vor dem Untergang: Nach der Reformation setzen die protestantischen Herrscher der kurzen Wallfahrtstradition ein Ende. Die Annenkapelle wird geschleift, die Wallfahrt verboten. Bald ist vom Ort des Geschehens nichts mehr zu sehen. Die Sache gerät in Vergessenheit.
Sogar das Wirtshaus war zu erkennen
Bis 1997. Damals erinnert sich Roland Wessling an die Erzählungen und geht der Sache auf den Grund. Tatsächlich bringen seine Messungen erstaunliche Tatsachen an den Tag: durch sie lassen sich nicht nur die beachtlichen Maße der Kapelle rekonstruieren. Auch die Umgebung bis hin zu einem Wirtshaus für die Pilger erschließen sich.
Kurzzeitig gibt es weitreichende Pläne, die allerdings, wie so oft, am Geld scheitern. Freigelegte Grundmauern werden vermessen, auf Karten notiert, aber wieder zugeschüttet. Wer soll Geld geben für ein solches Projekt? „Schade“, bedauert Hermann Wessling die gescheiterten Vorstöße seines Sohnes. „Es wäre im Zeichen der Ökumene sicherlich eine Möglichkeit gewesen, Bad Münder als einen Ort zu schildern, an dem sich Menschen in ihrer Hoffnung versammelt haben –auch weit über die Anliegen der Reformation hinaus.“
Es bleibt noch zu erzählen, auf was das Annen-Wunder beruht; denn, wie Sie ahnen, hat die verehrte St.-Annen-Statue in Wirklichkeit natürlich niemals Tränen vergossen. Ein gewisser Hans Dörenberg aus Hildesheim hatte die Figur schnitzen lassen. Im Kopf war Platz für eine kleine Pfanne. Das darin enthaltene Öl erhitzte sich bei Sonnenschein und trat als vermeintliche Tränen aus den Augen der Figur hinaus.
Und darum ist es vielleicht ganz gut, dass Gras über die Sache wächst.
Von Stefan Branahl