Verschwörungsmythen in der Corona-Pandemie
"Ich darf auch Grenzen ziehen"
Absurdeste Verschwörungsmythen breiten sich in der Corona-Krise aus – bis in die Mitte der Gesellschaft. Was kann ich tun, wenn mein Freund oder gar mein Partner plötzlich nur noch geheime Mächte am Werk sieht? Ein Interview mit dem Religionswissenschaftler und baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume, der sich intensiv mit Verschwörungsmythen beschäftigt.
In der Corona-Pandemie geistern abenteuerliche Verschwörungsmythen herum – oft mit antisemitischem Unterton. Woher kommt das?
Das Judentum war die erste Religion, die mit der Alphabetisierung, mit Bildung für alle Kinder begonnen hat. Wer immer heute vermutet, dass Experten eine Weltverschwörung anführen, landet deshalb im Antisemitismus. Anderen Verschwörergruppen traut man das gar nicht zu. Ich kenne niemanden, der etwa an eine Weltverschwörung der Muslimbrüder oder Quäker glauben würde, die die Juden kontrollieren würden.
Der Antisemitismus schwingt immer mit?
Ja. So wird behauptet, Bill Gates werde von der Familie Rothschild finanziert oder Angela Merkel sei heimlich jüdisch. Im Grundsatz geht es den Verschwörungsgläubigen darum, eine Weltsicht zu kreieren, in der alles, was schiefläuft, von einer Gruppe von Weltverschwörern ausgeht.
Viele der Mythen sind vollkommen absurd. So wird behauptet, Bill Gates wolle die ganze Welt zwangsimpfen und eine geheime Weltregierung schaffen. Oder ein weltweiter Ring mächtiger Pädophiler foltere Kinder in unterirdischen Bunkern. Warum wird so ein Unsinn bis in die Mitte der Gesellschaft geglaubt?
Wir sind durch Corona mit einer Bedrohung konfrontiert, die wir mit unseren Augen nicht sehen können. Das heißt, wir müssen uns auf Experten verlassen. Und die sagen: Dieses Virus ist gefährlich. Wer nun schon ein Expertenmisstrauen in sich hat, der kann jetzt leicht abkippen in die Verschwörungsmythen.
Was bringt das?
Ein Vorteil für diese Menschen ist: Wenn sie an die Mythen glauben, haben sie plötzlich keine offenen Fragen mehr. Die Wissenschaft dagegen kann immer nur vorläufiges Wissen bieten, und es gibt immer unterschiedliche Meinungen und Unsicherheiten. Wir wissen noch nicht, ob es eine Immunisierung gegen das Virus gibt und wann es einen Impfstoff geben wird. Für die Verschwörungsgläubigen dagegen ist vermeintlich alles klar. Wer mit Unsicherheit schwer umgehen kann, findet dort eine Scheinsicherheit.
Wer ist besonders anfällig für die Corona-Mythen?
Ganz entscheidend ist, welche Erfahrungen Menschen in ihren ersten beiden Lebensjahrzehnten gemacht haben: Ist ihnen ein Vertrauen in die Welt, in andere Menschen, in die Wissenschaften vermittelt worden? Oder haben sie erlebt, dass die Welt böse ist und sie niemandem trauen können? Haben sie vielleicht sogar autoritäre Erziehung und Gewalt erfahren? Emotional überzeugend sind die Verschwörungsmythen für Menschen, die gelernt haben, dass die Welt ein böser Ort ist. In Deutschland sind deutlich stärker Männer getroffen, durchaus nicht nur mit niedrigem Bildungsabschluss. Sie können da angesprochen werden – selbst wenn sie einen Doktortitel haben.
Was genau macht die Verschwörungsmythen gefährlich?
Alles Böse, auch das Böse in mir selber spalte ich ab und werfe es auf eine andere Gruppe, in diesem Fall auf die vermeintlichen Verschwörer. Ganz plötzlich kann ich mir dann alles erklären, was schief geht und was mich beunruhigt. Am Anfang fühlt sich das unglaublich erregend an: Ich gehöre zu den Erwachten, zu denen, die durchblicken und der Wahrheit ins Auge schauen. Der Nachteil ist: Nach der ersten Erregung führt das zu eskalierender Angst und man löst sich immer stärker von der Wirklichkeit ab und lässt Hass ins eigene Herz. Verschwörungsmythen sind eine kaputte Form von Religion. In den gewachsenen Religionen lernen wir, dass eine gute Macht die Welt regiert, der wir vertrauen können. Und genau das können die Verschwörungsgläubigen nicht mehr glauben.
Wie können Religionsgemeinschaften da helfen?
Die Menschen wünschen sich in der Corona-Krise Seelsorger. Wir brauchen die Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kampf gegen die Verschwörungsmythen dringend. Es kommt jetzt auf sie an. Sie müssen die Menschen auf der emotionalen Ebene ansprechen und sehen: Ihre Ängste und Sorgen, die haben einen Grund – auch wenn manche sich da reingesteigert haben. Die Ängste können rühren aus Kindheitserinnerungen, aus der falschen Medienblase, aus unverarbeiteten Schicksalsschlägen. Die Verschwörungserzählungen überdecken diese eigentlichen Wunden. Deswegen kommt man mit rein rationaler Argumentation dagegen normalerweise überhaupt nicht an. Die Kirchen und ihre Akademien sollten ihre Seelsorge ausbauen und jetzt auch Angehörige stärken, wie sie damit umgehen, wenn jemand aus der eigenen Familie in Verschwörungswelten abdriftet.
Wie kann ich persönlich mit Freunden umgehen, die plötzlich Verschwörungsmythen glauben?
Was helfen kann ist: Mit den Menschen reden. Sie wertschätzen. Im Gespräch bleiben. Ich darf aber auch betonen, dass sie sich auf einem ganz falschen Weg heraus aus der Realität befinden. Ich kann ihnen seriöse Medien anbieten, etwa eine Tageszeitung oder meinen Podcast. Was normalerweise nicht funktioniert, ist eine direkte rationale Argumentation.
Und wenn alle meine vernünftigen Gegenargumente nichts helfen?
Dann darf ich auch Grenzen ziehen. Keiner kann im Alleingang verhindern, dass jemand abdriftet. Ab einem bestimmten Punkt ist es ja auch eine bewusste Entscheidung, ob ich die Welt als gut oder böse wahrnehme. Und da hat jeder das Recht zu sagen: Das geht mir jetzt zu weit, das kann ich nicht mehr mittragen.
Aber viele Verschwörungsgläubige lehnen doch gerade seriöse Medien als vermeintliche Mainstream-Medien ab.
Das stimmt, das ist das klassische Motiv der Verschwörungserzähler: Sie behaupten, die ganzen Medien würden von den Verschwörern kontrolliert – und ziehen sich deshalb in ihre Internetblase zurück. Deswegen radikalisieren sich viele Leute ja auch sehr schnell. Es gibt heute nicht mehr Verschwörungsgläubige als früher, aber die Leute radikalisieren sich teilweise in kurzer Zeit über das Internet.
Wie sehr hilft im persönlichen Gespräch Empathie?
Empathie lässt sich im direkten Gespräch sehr gut zeigen. Ich darf sie aber auch einfordern. Ich darf zum Beispiel zeigen, dass es mich verletzt, wenn jemand allen Ernstes behauptet, Juden und gewählte Politikerinnen würden in Deutschland Kinder foltern. Ich darf klarmachen, dass solche Verschwörungsvorwürfe auch Leid verursachen. Wenn dann jemand überhaupt nicht bereit ist, auf mich und meine Werte einzugehen, und nur unbedingte Gefolgschaft einfordert, dann kann ich auch sagen: „Komm gern wieder, wenn du vernünftig mit mir reden möchtest. Ich muss mich vor dem Hass, den du verkündest, aber jetzt auch schützen.“
Und wenn daran eine Freundschaft zerbricht?
Dann ist das so. Es können daran Freundschaften und sogar Ehen zerbrechen. Das geht teilweise sogar recht schnell. Da müssen wir uns klarmachen: Wer sich wirklich entscheidet für eine Weltsicht, in der er niemandem mehr glaubt und vertraut außer der eigenen Internetblase, der ist dann auch dafür verantwortlich. Wenn sich ein erwachsener Mensch für den Glauben an ein weltbeherrschendes Böse entscheidet, dann ist es nicht an Ihnen, Schuldgefühle zu haben.
Wie habe ich die größte Chance, den anderen zur Vernunft zu bringen?
Es hilft zu ergründen: Welche Ängste stecken denn dahinter? Die haben meistens gar nichts mit Juden, Ärztinnen oder Viren zu tun. Dass mehr Männer als Frauen an Verschwörungsmythen glauben, liegt sicherlich auch daran, dass wir Männer immer noch seltener gelernt haben, über Gefühle, Sinn und Seele wertschätzend zu sprechen. Zu viele von uns leben in der Kälte.
Wie sehr sollte die Politik sich mit den Verschwörungsgläubigen beschäftigen?
In der Politik wird das ja gerade kontrovers diskutiert. Ich finde: Es kann nicht sein, dass wir immer diejenigen belohnen, die sich danebenbenehmen. Wir haben schließlich auch andere Protestierer wie die Klimaschützer von Fridays for Future, die sogar ein wissenschaftlich gut begründetes Anliegen haben – und sich vernünftig verhalten. Wir dürfen nicht übersehen, dass der übergroße Teil der Gesellschaft eben nicht den Verschwörungsschwurblern nachläuft.
Sicher?
Ja. Die Verschwörungsgläubigen behaupten ja gern, dass sie für eine schweigende Mehrheit des Volkes sprechen würden. Das weise ich entschieden zurück. Die vernünftige Mehrheit hat mit Verschwörungsmythen nichts am Hut. Und es wäre falsch, immer nur diesen vermeintlich besorgten Bürgern nachzulaufen und nicht zu sehen, dass ein Großteil der Menschen völlig okay ist. Verschwörungsgläubigen gilt es zu helfen, sie aber nicht zu belohnen.
Ist das Problem ist also nicht so groß, wie es die Demo-Bilder vom vergangenen Wochenende haben erscheinen lassen?
Ich glaube, wir werden weitere Radikalisierungen erleben. Ich fürchte, dass es auch zu Gewalttaten kommen wird. Aber ich gehe nicht davon aus, dass wir wieder so etwas wie Pestprogrome erleben werden. Unsere Demokratie ist stark genug, um die Leute in ihre Schranken zu weisen. Wenn wir uns selber nicht in Panik versetzen lassen, dann wird das eine Minderheit bleiben, über deren Verschwörungsmythen wir aufklären können. Und vielleicht können wir manchen sogar helfen, da wieder rauszukommen.
Was macht Sie optimistisch?
Bei den Pestprogromen wurde den Juden vorgeworfen, sie seien Brunnenvergifter. In manchen Städten haben das sogar Mehrheiten geglaubt. Davon sind wir heute weit entfernt. Die Verschwörungsgläubigen sind eine Minderheit. Aber natürlich: Wenn in Deutschland 10, 15 Prozent an Verschwörungsmythen glauben, dann sind das immer noch Millionen. Und wenn sich von diesen Millionen auch nur jeder Tausendste bis zur Gewaltbereitschaft radikalisiert, ist das zu viel. Wir haben das ja bei den Reichsbürgern erlebt. Der Staat muss wehrhaft sein gegen diese Digitalradikalen und ihnen rechtzeitig die Waffen abnehmen.
Wie werden sich die Demonstrationen von Verschwörungsgläubigen in nächster Zeit entwickeln?
Ich gehe davon aus, dass sich jetzt die erste Welle von Demonstrationen zersplittern wird. Allerdings wird die Pandemie ja auch wirtschaftliche Folgen haben – und noch ist offen, wie schlimm die sein werden. Für Entwarnung ist es deshalb noch zu früh. Da kommen noch ein paar heftige Jahre.
Was kann jeder Einzelne dagegen tun, dass die Verschwörungsmythen zu mächtig werden?
Jeder kann sich in seriösen Medien informieren und auf seriöse Wissenschaftlerinnen hören. Damit kann er andere aufklären, aber auch sich selber vor Verschwörungsglauben schützen. Zur Wahrheit gehört: Wir haben in der Corona-Krise immer nur vorläufige Antworten. Aber das ist immer noch tausend Mal besser als die Scheinsicherheit, die Verschwörungsmythen bieten. Das Gute ist: Wer die Psychologie des Verschwörungsglaubens einmal verstanden hat, ist selbst ein bisschen davor geschützt – und lässt sich von diesen Verschwörungsverkündern nicht mehr austricksen.
Interview: Andreas Lesch
Weitere Informationen zu Verschwörungsmythen finden Sie auf Michael Blumes Blog: https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/verschworungstheorien/