Fluchtgeschichten im Ostpreußischen Landesmuseum

Irgendwann macht sich die Seele Luft

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Führung vor aktuellem Hintergrund: Als Vera Thiel zum ersten Mal im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg Fluchtgeschichten erzählte, brachten sich die ersten Menschen vor dem Krieg aus der Ukraine in Sicherheit.


Eine Mutter mit ihren Kindern flüchtet aus Ostpreußen. Solche Bilder haben viele Menschen noch im Kopf.

Es sind Geschichten wie die von Christa Koller, die im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg erzählt werden. Eine Hörstation, aufgebaut in der Abteilung Flucht und Vertreibung, rund um die Szene mit dem ins Halbdunkel getauchten Panjewagen und den gebeugten Gestalten, die Richtung Nehrung ziehen. Was Christa Koller, geboren 1937 in Selsburg, in einfachen, aber eindringlichen Worten erzählt, unterscheidet sich kaum vom Schicksal hunderttausender anderer Menschen in jenen letzten Kriegsmonaten: Am 28. Januar 1945 flieht sie mit ihrer Großmutter über das zugefrorene Haff nach Pillau, erst nach drei Jahren geht es über Königsberg nach Lüneburg, wo sie endlich ihre Mutter wiedertrifft. Der Löffel, ausgestellt in einer Vitrine, war das einzige Besteckteil, das die kleine Christa und ihre Großmutter auf der Flucht und später im besetzten Ostpreußen zum Essen und als Werkzeug benutzen konnten.
 


Als Vera Thiel ihre Führungen plante, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie aktuellen Bezug haben könnten.

Vera Thiel, inzwischen pensionierte Lehrerin aus Stade, kennt solche Geschichten, auch ihre Eltern haben sie manchmal erzählt – von den Festen in Friedenszeiten, von der Flucht zunächst ins Samland mit dem Wagen, den der Pole Wodek gefahren hat, offiziell ein Zwangsarbeiter, inoffiziell ein Teil der Familie. „Ich kümmere mich um Haus und Hof, bis ihr wieder zurück dürft“, hatte Wodek versprochen. „Aber  wir haben nie wieder etwas von ihm gehört“. Denn zurück kehrte niemand.
 

Rückblickend weiß Vera Thiel, dass die Flüchtlinge aus Ostpreußen, die Vertriebenen aus Schlesien oder anderen einst deutschen Gebieten nach dem Krieg sehr darunter gelitten haben, weil sich lange niemand dafür interessierte, was sie durchgemacht hatten.  Manchmal hat die Mutter angefangen zu berichten, von der Flucht aus Ostpreußen, von der eisigen Kälte, vom Hunger, von den toten Babys, die im Schnee verscharrt zurückgelassen wurden. „Aber ich habe ihr nicht zugehört“, sagt Vera Thiel.
 


„Die Mutter von Nemmersdorf“,
ein Bild des ostpreußischen Malers
Alfred Partikel.

Die Generation der unmittelbaren Zeitzeugen ist fast ausgestorben, und wer heute noch erzählen könnte, war damals ein Kind. „Was diese Menschen mitgemacht haben, können wir uns überhaupt nicht mehr vorstellen“, sagt Vera Thiel. Von einer Pflegerin hat sie gehört, wie sich im Alter oft die Seele Luft macht, wie die lange verdrängten Erlebnisse dann doch irgendwie heraus müssen.

Seit einigen Jahren arbeitet Vera Thiel ehrenamtlich für den Besucherservice des Lüneburger Museums. Thematisch spezialisiert hat sie sich auf die Abteilung, in der es um die Flucht aus Ostpreußen geht. Mit vielen alten Menschen, die als Kinder ihre Heimat verlassen mussten, hat sie gesprochen. Der Krieg in der Ukraine war gerade ein paar Tage alt, die ersten geflüchteten Frauen und Kinder hatten sich auf den Weg nach Westen, auch nach Deutschland, gemacht, als sie ihre erste Führung anbot. „Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wussten genau, wovon ich gesprochen habe“, berichtet Vera Thiel. „Viele hatten ja all das – wenn auch unter viel schwierigeren Bedingungen – selber mitgemacht. Sie verließen nachdenklich und schweigsam das Museum.“

Nicht erst seit dieser Erfahrung beschäftige sie, wie diese Menschen mit ihrem Schicksal umgegangen sind. „Die meisten haben es gemeistert, und ich erlebe sie als besonders kraftvoll.“

Stefan Branahl