Das Ethik-Eck

Jeden Tag mit der Schwester telefonieren?

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Ethik-Eck – die Frage lautet diesmal: "Meine Schwester möchte jeden Tag mit mir telefonieren. Ich möchte das nicht. Was soll ich tun?" Die Antworten unserer Expertinnen lesen Sie hier.


Abgrenzen
Sollte Ihre Schwester alleine leben, so ist es gerade jetzt in Corona-Zeiten verständlich, dass sie jeden Tag mit einem vertrauten Menschen reden möchte. Es gibt auch alleinlebende Menschen, die einfach nur eine tägliche Nachfrage wünschen, ob es ihnen gut geht. Sind es solche Beweggründe, die sicherlich sehr ernst zu nehmen sind?
Oder hat Ihre Schwester akute Sorgen, bei der Sie konkret Ihre Unterstützung braucht?


In all diesen Fällen hat man als nahe Verwandte sicher eine besondere Verantwortung, die aber nicht zur Selbstüberforderung führen darf. Die Dringlichkeit einschätzen können nur Sie als nahestehende Person. Hilfreich kann dabei auch ein Perspektivenwechsel sein: Was würden Sie selbst sich in genau dieser Situation umgekehrt von ihrer Schwester wünschen?
Ist die Lage akut und ernst, werden Ihnen tägliche Gespräche kaum schwerfallen. Falls Ihre Schwester mit Ihnen aber einfach nur plaudern möchten, weil sie sehr mitteilungsbedürftig ist, obwohl sie gar nicht alleine lebt oder genügend Kolleginnen, Nachbarn, Freundinnen ... hat, können Sie respektvoll Ihre Bedürfnisse, Sichtweise und Argumente vorbringen und konsequent um Verständnis dafür werben.
Jedoch auch bei hoher Dringlichkeit der täglichen Zuwendung oder gerade dann ist eine gewisse Abgrenzung erlaubt und hilfreich. In den Evangelien lesen wir, dass selbst Jesus sich immer wieder zurückzog, gerade wenn besonders viele Menschen ihn bedrängten. Das Gebet in der Stille war seine Kraftquelle. Sicher tun auch uns solche Zeiten der Besinnung gut, um dann wieder für andere da sein zu können. Wenn Sie irgendwann nur genervt reagierten, sobald Ihre Schwester anruft, wäre ja keinem geholfen.
Vielleicht können Sie mit Ihrer Schwester einen Kompromiss finden. Falls tägliche Gespräche erforderlich scheinen, diese möglichst im Einvernehmen zeitlich begrenzen, notfalls in festen Zeitfenstern mit definiertem Ende – wie dem Beginn der Arbeitszeit. Noch mehr anbieten würde es sich, einen solchen Dienst der täglichen Fürsorge auf mehrere Schultern im Umfeld der Schwester zu verteilen. Falls da sonst niemand ist, können Sie ihr eventuell helfen, Kontakte aufzubauen, ggf. auch mit ehrenamtlicher oder professioneller Unterstützung. Idealerweise finden sich Menschen, die genauso einsam sind und sich daher über regelmäßige Anrufe ehrlich freuen würden.

Dr. Beatrice van Saan-Klein
Biologin, Umweltbeauftragte des Bistums Fulda

 

Beistehen
Warum will sie das wohl? Schade, dass man so wenig weiß. Bleibt nur, ein bisschen hin- und her zu überlegen. Ist sie gerade in einer Krise? Oder geht das wie in Gewohnheit schon lange? Ist sie einsam? Oder ist ihr gerade dieser Kontakt so wichtig? Hat sie gerne die Dinge unter Kontrolle oder ist sie ganz besonders bedürftig (wobei sich das ja nicht ausschließt).
Und wie ist das so unter den beiden Geschwistern? Wer ist älter, wer jünger? Wer musste sich vielleicht schon immer kümmern? Wer konnte den anderen einspannen, wer hatte und hat welche Rolle in der Familie? Gibt es noch mehr Geschwister? Oder ist da was Neues, hat sich in der Familie etwas verschoben?


Und die Person, der es zu viel wird: Ist sie jemand, die sich gerne kümmert, nicht gut nein sagen kann (und damit auch nicht gut ja), gab es auch Einladungen von ihrer Seite – ist auch toll, so gebraucht und nötig zu sein. Wen ruft sie eigentlich an, wenn sie jemanden braucht?
Beziehungen unter Geschwistern sind etwas sehr Besonderes. Irgendwann sind das die Menschen, die uns am längsten kennen und mit denen man tief verbunden ist, weil man aus derselben Herkunft stammt. Das gilt ganz unabhängig davon, wie die aktuelle Beziehung ist, wie häufig man sich sieht, und wie unterschiedlich man sich entwickelt hat. Die Kinderrollen sind besonders stabil: der Große, der Verantwortung zu übernehmen hatte und deshalb immer schon so vernünftig war, der Nachkömmling, der im Windschatten der Großen viel leichtfüßiger durchs Leben schlendert. Das kleine Prinzesschen, der einzige Junge unter Mädchen … so viele Zuschreibungen, die so selbstverständlich und normal scheinen, und das eigene Bild, das Verhalten und die Gefühle prägen (und oft auch die Partnerwahl).
Deswegen sind Beziehungen unter Geschwistern schwer veränderbar, man lebt schließlich schon sein ganzes Leben lang so. Man muss es ganz ausdrücklich wollen und versuchen. Und es sich anschauen: Wer verhält sich wie und vor allem warum? Ist das schon immer so – oder wie konnte es sich entwickeln, unbemerkt unter der Hand oder was hat sich verändert (vielleicht mit den Eltern)?
Und dann muss man sprechen: ja sagen und nein sagen; sagen, was geht und was nicht und warum. Es dürfen Grenzen gezogen werden und hoffentlich auch etwas ermöglicht und zugesagt werden. Vielleicht kann über Gefühle (auch alte) gesprochen werden, über Enttäuschungen und Überforderung, hoffentlich auch über guten Willen und Zuneigung.
Es wäre schade, wenn etwas sehr Gutes verschwände – dass Geschwister in Verbindung sind und sich gegenseitig beistehen.

Ruth Bornhofen-Wentzel
Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt

 

Gegenseitig
Die Beziehung zu Geschwis-tern gehört für gewöhnlich zu jenen besonderen Bindungen, die von hoher Intensität und Vertrautheit zeugen und die eigene Entwicklung nachhaltig prägen. Gerade im Kindes- und Jugendalter stellen Geschwis-ter wichtige Bezugspersonen für uns dar und bleiben diese oft noch im Erwachsenenalter, wenngleich sich die Gestaltung der Beziehung und die Bedürfnisse wandeln und auch in Konflikt geraten können.


Das obige Szenario ist ein gutes Beispiel dafür: Offenbar prallen hier verschiedene Ansichten hinsichtlich der Regelmäßigkeit und Ausgestaltung der geschwisterlichen Beziehung aufeinander. Wie aber kann
diese Spannung gelöst werden? Aus der Beziehungsforschung wissen wir, dass solche Konflikte offen thematisiert und in einen Umgang überführt werden müssen, der beide Parteien gleichermaßen ernst nimmt, das heißt nicht einfach ein fauler Kompromiss bleibt. Oder in ethischer Sprache: Es ist das Prinzip der Reziprozität – der Gegenseitigkeit – zu achten, die Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen, zwischen Fremdem und Eigenem.
Entsprechend gilt es sich mit Blick auf die Schwester zum Beispiel bewusst mit der Frage zu befassen, warum sie sich nach täglichem Kontakt sehnt. Leidet sie unter Einsamkeit? Hat sie Sorgen? Oder ist es mittlerweile einfach Gewohnheit? Verlangt es ihrer Ansicht nach der Anstand so? Zugleich müssen aber auch die eigenen Ansprüche geklärt und zum Ausdruck gebracht werden: Was spricht etwa gegen die täglichen Anrufe? Werden stattdessen andere Formen des Kontakts (zum Beispiel persönliches Treffen) bevorzugt? Warum? Erst wenn diese Fragen näher ergründet werden, lassen sich Lösungen identifizieren, die beiden Personen gerecht werden können.
Fühlt sich die Schwester etwa häufig einsam und bevorzugt man selbst den direkten Kontakt, könnte es der Beziehung zum Beispiel entgegenkommen, sich einmal pro Woche persönlich zu treffen und sich bewusster füreinander Zeit zu nehmen. Vielleicht hilft es der Schwester auch zu hören, dass sie gegen keinerlei Gepflogenheit verstößt, wenn sie nicht täglich zum Telefonhörer greift. Wo aber persönlichen Wünschen trotz aller Offenheit kein Verständnis entgegengebracht wird und eigene Grenzen permanent überschritten werden, lassen sich durchaus Konsequenzen ziehen, ist der Kontakt unter Umständen gezielt zu reduzieren bzw. für gewisse Zeit zu unterbinden. Die Beziehung zu den Geschwistern (wie auch zu anderen Menschen) kann mit anderen Worten nur dann eine wirkliche Bereicherung darstellen, wo sie eben nicht auf Druck und Zwang beruht, sondern beide Personen gleichermaßen in ihren jeweiligen Bedürfnissen geachtet werden.

Stephanie Höllinger
ist Assistentin am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Mainz.