Leben mit der Schrift

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Wie kann ich mich als Christ der Bibel nähern? Wo anfangen zu lesen, wie eintauchen in das Wort Gottes? Fragen dazu beantwortet Sr. Igna Kramp, Dozentin am Theologisch-Pastoralen Institut in Mainz, im Interview in der Rubrik „Die Fragen der Menschen“. Von Sarah Seifen.

Muss ich als Christ einmal im Leben die ganze Bibel lesen?

Womit anfangen beim Lesen der Bibel? Mit dem ersten Buch des Alten Testaments „Genesis“, rät Schwester Igna Kramp. | Foto: Sarah Seifen
Womit anfangen beim Lesen der Bibel? Mit dem ersten Buch des Alten
Testaments „Genesis“, rät Schwester Igna Kramp. Foto: Sarah Seifen

Es ist gewiss lobenswert. Wichtiger als Vollständigkeit scheint mir aber, dass ich mich von den Texten wirklich berühren und auf einer existenziellen Ebene herausfordern lasse. Dass nicht nur ich den Text lese, sondern auch der Text mich – in dem Sinne, dass es nicht um ein Vielkennen und -wissen geht, sondern um ein Leben mit der Schrift und dem lebendigen Gott, dem wir darin begegnen.

Eigentlich sollen wir die Schrift ja nicht auslegen, sondern ausleben. Das Auslegen braucht es freilich auch, damit klar wird, was umgesetzt werden will.

In welcher Reihenfolge soll ich die Bibel lesen: Soll ich mit Genesis im Alten Testament starten oder mit dem Neuen Testament?

Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Empfehlen würde ich, das Alte und das Neue Testament parallel zu lesen. Also zum Beispiel mit Genesis 1,1 und Matthäus 1,1 zu beginnen und tageweise abzuwechseln, oder jeden Tag ein kleines Stück aus beidem zu lesen.
Zusätzlich kann es jeweils sehr hilfreich sein, die in der Bibel unter dem jeweiligen Text angegebenen Parallelstellen im Alten und Neuen Testament nachzulesen. Dann verbinden sich das Alte und das Neue Testament besser, und auch die intertextuellen Bezüge werden deutlicher.

Gibt es ein Buch, das sich zum Start besonders eignet?

Im Alten Testament würde ich Genesis und Exodus empfehlen, im Neuen Testament das Markus- oder das Lukasevangelium.

Warum sind Psalmen ein Dauerbrenner?

Jesus selbst hat sie gebetet. Am deutlichsten ist das zu sehen an Psalm 22 und der Rolle, die dieser Psalm in der Passion Jesu spielt (siehe: Zitiert).
Die Psalmen sind das Gebet Davids und daher das Gebet Jesu, des davidischen Messias. Sie sind das Gebet Israels und das Gebet der Kirche. Zudem drücken sie existenzielle menschliche Grunderfahrungen wie Lob, Bitte, Klage, Schmerz, Angst, Scham aus. Das macht sie zu Gebeten, die zu jeder Zeit aktuell sind. Die großen Gefühle teilen wir mit den Menschen aller Zeiten.

Was kann ich beim Lesen der Bibel getrost weglassen?

Nichts. Trotzdem ist aber auch nicht einfach alles gleich wichtig. Eine liturgische Vorschrift für den Tempelgottesdienst hat zum Beispiel nicht die gleiche Relevanz wie das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Sie ist aber auch nicht irrelevant.

Schwester Dr. Igna Kramp Foto: Sarah Seifen
Schwester Dr. Igna Kramp
Foto: Sarah Seifen

Was ist wichtiger, was ist weniger wichtig? Hier kann helfen zu fragen: Was bedeutet diese Aussage heute? Den Tempel gibt es nicht mehr, aber die Gottes- und Nächstenliebe ist zu jeder Zeit wichtig. Trotzdem stellt sich auch bei Details aus dem Tempelgottesdienst die Frage: Was wird uns damit gesagt? Beispielsweise drückt sich in ihnen ein ehrfürchtiger Umgang mit dem heiligen Gott aus. Das ist auch heute noch wichtig, ganz ohne Tempel.

Darf ich mir Stellen in der Heiligen Schrift markieren?

Dürfen: Ja, natürlich. Ob ich es will, ist eine Frage der Ästhetik.
Heilig ist für Christen zuerst Gott. Die Gottesbegegnung, und vor allem die Begegnung mit dem fleischgewordenen Wort, Jesus Christus, geht jeder schriftlichen Bezeugung voraus – zeitlich, aber auch systematisch. Deshalb ist das Christentum nur indirekt eine Buchreligion und das materielle Buch der Bibel auch nur in diesem abgeleiteten Sinne heilig.

Zudem will das Wort Gottes in der Bibel gelesen und verstanden werden, und wenn das Markieren dazu hilft, ist es sicher im Sinne des sprechenden Gottes. Manchmal erlebe ich Menschen, deren Bibel über und über eingemerkt und mit Notizen versehen ist. So mit diesem Buch zu leben, finde ich anrührend.

Anders ist es mit einem Buch, das liturgisch verwendet wird, um das Wort Gottes zu verkünden, und entsprechend verehrt wird. In ein solches Buch sollte man nicht schreiben, weil es mehr als die Bibel, die ich zuhause habe, ein verehrungswürdiger Gegenstand ist. Und diese Verehrung hat ja auch einen objektiven Charakter, so dass subjektive Kommentare hier nicht angebracht sind.

Sollte ich meine Bibel segnen lassen?

Eine Bibel braucht nicht gesegnet zu werden, weil ja das Wort Gottes selbst schon heilig ist. Vielmehr werden mit ihr Menschen gesegnet, zum Beispiel mit dem Evangeliar in der Bischofsliturgie. Deshalb gibt es im Benediktionale auch kein Formular für die Segnung einer Bibel.

Es ist aber durchaus sinnvoll, ein Gebet zu sprechen oder still zu verweilen, bevor man die Bibel liest oder meditiert, um den Beistand Gottes zu erbitten und sich selbst auf Gott auszurichten. Der Leser bedarf in diesem Fall des Segens, nicht die Schrift.

Was bedeutet der Begriff „Lectio Divina“?

Gemeint ist „geistliche Lesung“ der Heiligen Schrift, also ein Lesen, das zum inneren Angerührt-sein, in die Meditation und ins Gebet führt. Das ist ein fester Begriff aus der klösterlichen Tradition. „Lectio Divina“ kann aber jeder auch zuhause praktizieren. Dafür muss man kein Mönch und keine Nonne sein.

Hilfen dazu gibt es unter anderem beim Katholischen Bibelwerk: www.bibelwerk.de/Lectio+Divina.89122.html

Fragen zusammengestellt von Sarah Seifen

 

Zitiert: Worte am Kreuz

„Für den Chormeister. Nach der Weise Hinde der Morgenröte. Ein Psalm Davids. / Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, /bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? / Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; / und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe. / Aber du bist heilig, / du thronst über dem Lobpreis Israels. / Dir haben unsere Väter vertraut, / sie haben vertraut und du hast sie gerettet. / Zu dir riefen sie und wurden befreit, / dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.“
Psalm 22, 1-6

„Als die sechste Stunde kam, brach eine Finsternis über das ganze Land herein – bis zur neunten Stunde. Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Markus-Evangelium 15, 33-34