Gott wird nicht Kronprinz, sondern Kind kleiner Leute
Leben wie in Nazaret
Jesus ist nicht zufällig als Kind kleiner Leute zur Welt gekommen, sagt der Dichter und Ordensmann Andreas Knapp. Von Jesu Leben als Zimmermannssohn könnten wir für den Alltag eines Christenmenschen einiges lernen.
Zu Weihnachten feiern wir, dass Jesus Mensch wird. Er wächst in Nazaret auf. Sie haben ein Buch geschrieben, das Nazaret nicht als Zufall, sondern als Programm deutet. Was meinen Sie damit?
Jesus lebt einen gewöhnlichen Alltag als Zimmermannssohn. Mit seiner Familie, der Arbeit, den Festen. Er erlebt auch die politische und soziale Unterdrückung der damaligen Zeit. Er erlebt, dass Menschen ausgebeutet und verachtet werden. Das Leben von Nazaret wird zur Schule für Jesus. Es ist ein Programm, das er am eigenen Leib lernt und später verkündet. Gott wählt ein gewöhnliches Leben an einem unwichtigen Ort, um unter uns Menschen gegenwärtig zu sein. Damit wird deutlich, dass jedes menschliche Leben und gerade das, das eher am Rand steht, für Gott unendlich wertvoll ist.
Was heißt das für uns heute?
Ich darf mein Leben als mein Nazaret verstehen. Ich darf in der Gegenwart Gottes leben, in meinem konkreten Alltag entdecken, dass Gott mich begleitet und dieses Leben in den Augen Gottes wertvoll ist. Ich muss nichts Besonderes haben, um jemand zu sein. Ich bin jemand, weil Gott mich kennt und als sein Kind wertschätzt.
Wie lässt sich Gott im Alltag entdecken?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es darauf ankommt, sich darzustellen, aufzusteigen, sich zu optimieren, um anerkannt zu werden. Nazaret bedeutet: Nein, da, wo du bist und wie du bist, so bist du in den Augen Gottes wertvoll. In diesem Bewusstsein kann ich meinen Alltag gelassener leben und muss nicht in die ständige Spirale des Optimierens einsteigen. Mein gewöhnliches Leben ist unendlich wertvoll, weil ich in den Augen Gottes unendlich wertvoll bin. Das entlastet nicht nur, es schärft auch den Blick, bei anderen diese Gegenwart Gottes wahrzunehmen.
Eine langweilige, anstrengende Arbeit wertzuschätzen, das kann ganz schön schwer fallen.
Ich kenne solche ganz gewöhnlichen, langweiligen Arbeiten ...
Sie haben sie selber gemacht.
Ich habe auf der Baustelle gearbeitet, am Fließband, als Hilfspflegekraft. Ein mühsamer Alltag, der auch nicht sehr wertgeschätzt wird, weder durch Bezahlung noch in den Augen vieler Menschen. In einem solchen Alltag Gott zu entdecken, fällt nicht leicht. Dafür braucht es Zeiten der Stille und des Gebetes. Vielleicht durch ein Stoßgebet: „Ja, Gott, ich tue das jetzt in deiner Gegenwart.“ Dann bin ich zwar immer noch in dieser Tretmühle des Alltäglichen und Schwierigen. Es geht aber auch nicht darum, immer ein hochjauchzendes Gefühl zu haben, wenn wir unsere gewöhnlichen Dienste des Alltags tun. Sondern darum, uns immer wieder der Gegenwart Gottes zu vergewissern. Nazaret bedeutet, dass Gott ein solches Leben gewählt hat.
Sie haben vorhin davon gesprochen, auch im anderen die Gegenwart Gottes zu entdecken. Wie meinen Sie das?
Nazaret bedeutet die Entdeckung, dass alle Menschen Schwestern und Brüder sind. Jeder Mensch, egal welchen Status er gesellschaftlich hat, ist für mich Bruder und Schwester. Mein Nachbar oder mein Arbeitskollege ist in den Augen Gottes wertvoll. Ich kann und darf ihm auch in dieser Wertschätzung begegnen.
Damit helfe ich Gott bei der Menschwerdung?
Ganz genau. Das ist auch ein Aspekt von Nazaret: Gott ist solidarisch mit unserer Welt. Ich folge Jesus nach, indem ich auch solidarisch werde mit meinen manchmal nervigen Arbeitskollegen. Etwa indem ich versuche, großzügig zu sein und nicht alles zu kritisieren, was mich vielleicht nervt. Schließlich hat er auch seine Geschichte. Ich versuche, ein Stück Großzügigkeit, Geduld und Gelassenheit einzuüben in der Begegnung mit den anderen.
Oft fällt das schwer. Wie kann ich das einüben?
Es braucht kleine Unterbrechungen: etwa ein Gebet, das mir einen Blickwechsel ermöglicht. Dieser Blickwechsel heißt: Ich versuche, diesen Menschen so zu sehen, wie Gott ihn vielleicht sieht. Dann komme ich raus aus meinem befangenen Blick, der natürlich seine Berechtigung hat. Aber vielleicht sieht Gott den Menschen anders, weil er auch seine Geschichte kennt. Das hilft, die eigene Fixierung auf Dinge, über die man sich ärgert, zu lösen. Es ist der Blickwechsel von Nazaret. Den hat Gott selber durch die Menschwerdung vorgenommen, um das Geschöpf mit den Augen des Geschöpfes zu sehen. Er ist Mensch geworden, um aus dieser Perspektive heraus das menschliche Leben zu sehen.
Wir sind aber nicht Gott. Sie beschreiben ein anspruchsvolles Programm.
Es ist ein geistliches Programm. Wir als Christinnen und Christen versuchen, uns vom Evangelium prägen zu lassen. Dafür braucht es immer wieder kleine Übungen. Es braucht das Lesen im Evangelium, um sich davon prägen und verwandeln zu lassen. Es braucht auch den Austausch mit anderen, die mir helfen, unsere Erfahrungen miteinander zu teilen und tiefer zu erschließen. Allein kann ich das sowieso nicht. Als Christinnen und Christen brauchen wir immer die anderen, die uns helfen, diese Blickänderung einzuüben.
Jesus ist denen nah, die am Rande leben. Die meisten von uns leben eher nicht am Rand der Gesellschaft. Denen ist er nicht nahe?
Doch, er ist allen Menschen nah. Das Evangelium lädt mich ein, meinen Blick zu öffnen: Wo sind Menschen in meiner konkreten Umgebung an den Rand geschoben? Wo werden Menschen wenig beachtet? Wir kennen alle Menschen in unserer Umgebung, die einsam sind und ein gutes Wort brauchen. Diese Menschen mehr in den Blick zu bekommen, kann in jeder Lebenssituation eingeübt werden. In diesen Menschen begegne ich Christus und er mir.
Sie leben in Ihrer Ordensgemeinschaft mit Menschen an den Rändern unserer Gesellschaft. Sie können jederzeit aussteigen, die Menschen am Rande nicht.
Das ist nicht die Weise, wie Jesus gelebt hat. Denn die Menschwerdung Gottes bedeutet gerade nicht, dass er von oben herab etwas tut, sondern dass er nach unten steigt und einer von ihnen wird. Ich werde natürlich nie einer von denen sein, die hier in meiner Nachbarschaft als Geflüchtete oder Vertriebene wohnen, aber die Freundschaften, die wachsen, sind ernsthafte Beziehungen. Da steigt man doch nicht einfach aus, weil man keine Lust mehr hat.
Sie folgern aus der Menschwerdung Gottes, dass wir Hoffnung haben können. Mit Jesus habe eine neue Welt begonnen. Die heutige Welt sieht wenig hoffnungsvoll aus. Warum dürfen wir hoffen, dass diese Welt besser wird?
Der Augenschein spricht oft dagegen. Das hat Jesus in Nazaret selbst erlebt. Es war eine Zeit der brutalen Unterdrückung durch das römische Reich. Die sozialen Ungerechtigkeiten waren groß. Die Frommen haben oft andere durch ihre Gesetze ausgeschlossen. Es war genauso eine verzweifelte Welt mit Diskriminierung, wirtschaftlichen und politischen Katastrophen wie heute. Jesus hat geglaubt, dass das, was er konkret an diesem Ort tut, einen bleibenden Wert hat. Das nennen wir Hoffnung: Wir haben es nicht in der Hand, dass wir Erfolg haben werden. Nazaret ist kein Programm des Erfolges, sondern der Hoffnung.
Aber was heißt das konkret?
Ich befinde mich hier oft im Papierkrieg mit irgendwelchen Behörden. Das ist zum Resignieren. Aber ich bleibe dran. Jeder Schritt, mit dem wir versuchen, treu und mit Geduld etwas aufzubauen, wird nicht einfach von der Weltgeschichte weggewischt. Er bleibt in der Dimension Gottes verankert. Als Christ glaube ich daran, dass es eine andere Dimension gibt, in der alles, was wir guten Willens und aus Liebe tun, nicht einfach unter die Räder der Weltgeschichte kommt, sondern dass es einen bleibenden Wert hat. Jesus würde sagen, das ist ein Schatz im Himmel.
Das ist aber nur eine Hoffnung im Kleinen.
Aber es ist eine konkrete Hoffnung! Die große Weltgeschichte kann ich nicht ändern. Nazaret bedeutet, dass Jesus nicht versucht hat, in Rom ein neues politisches Programm umzusetzen oder in Jerusalem eine neue religiöse Struktur. Es geht um den Glauben, dass du an dem Ort, an den du gestellt bist, versuchen kannst, aus dem Evangelium zu leben. Dort kannst du auf das Wort Gottes hören, du kannst teilen und geschwisterlich sein und andere Menschen nicht ausschließen. Dann ist die neue Welt Gottes dort schon gegenwärtig! Aber wir tun das auch in der Hoffnung, dass andere es sehen. Und so entstehen größere Linien. Wenn viele dieses Kleine tun, verändert sich auch etwas im Größeren. Deswegen will christliche Hoffnung auch immer Zeugnis geben für andere, um sie einzuladen, auch so zu leben.
Heißt Nazaret dann auch, einfach durchzuhalten?
Genau. Und später ist Jesus hinausgegangen, um anderen seine Erfahrungen und seinen Glauben aus Nazaret weiterzugeben. Nazaret hat auch einen missionarischen Zug, in dem Sinne, dass wir Zeugnis geben für diese neue Welt Gottes. Nazaret ist keine Enklave, keine eingeschlossene Insel. Es geht darum, dass man diese Dynamik des Reiches Gottes überall leben kann.
Interview: Ulrich Waschki
Andreas Knapp ist Ordensmann und lebt in einem Plattenbau in Leipzig. Er hat das Buch geschrieben: Wer alles gibt, hat die Hände frei. Verlag bene!, 176 Seiten, 18 Euro