Wie können Eltern ihren Kindern Halt und Kraft geben?

"Mama, guck mal!"

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Mutter trägt ihr Kind auf dem Arm, das mit dem Finger auf etwas zeigt
Nachweis

Foto: istockphoto/AnVr

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Kinder wollen ihren Eltern zeigen, was sie entdeckt haben. Es macht einen Unterschied, ob die Eltern darauf reagieren oder erst aufs Handy schauen.

Kinder und Jugendliche sind nicht nur durch die großen Krisen belastet, auch durch die kleinen, persönlichen. Wie können Eltern ihnen von klein auf Kraft und Halt geben – und welche Verhaltensweisen sollten sie überdenken? Diakon und Psychotherapeut Kurt Brylla hat Antworten.

 

Herr Brylla, sind es vor allem die großen Krisen – Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel –, die junge Menschen umtreiben?
Durch die Corona-Pandemie waren erhebliche Einschränkungen im Alltag von Kindern und Jugendlichen zu verkraften. Ein Teil dieser Verunsicherung wird erst jetzt im Nachhinein offensichtlich. Auch die Bilder vom Krieg belasten junge Menschen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass wir uns stark mit äußeren Einflüssen beschäftigen und dass darüber die leisen Probleme von Kindern eher verdrängt werden.
 

Also persönliche Krisen wie Streit in der Familie oder ein krankes Familienmitglied?
Zum Beispiel der Umgang mit psychischen Erkrankungen von Eltern ist lange bagatellisiert worden – dabei stellen Kinder und Jugendliche natürlich Fragen wie: „Warum ist Mama immer so traurig?“ Es ist wichtig, diese Themen aus der Grauzone herauszuholen und Kinder frühzeitig zu unterstützen, nicht erst dann, wenn sie selbst seelisch erkranken. Hinzu kommt, dass sich die Lebensbedingungen zuletzt stark verändert haben.
 

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Ein Bereich betrifft die Virtualisierung von Alltagsbeziehungen. Bei heutigen Jugendlichen ist die Entwicklung der eigenen Identität weniger von Begegnung und Beziehungserfahrung geprägt, eher von Erfahrungen im Netz. Zugleich sind junge Menschen häufiger von Einsamkeit betroffen, als viele vermuten. Viele Forschungsbereiche – Säuglings- und Hirnforschung ebenso wie Neurobiologie – zeigen jedoch, wie wichtig das ist, was früher Urvertrauen genannt wurde.
 

Was bedeutet das?
Wir wissen heute, dass lebensnotwendige Bindungs- und Beziehungserfahrungen schon vor der Geburt angebahnt werden. Werdende Eltern müssten also auch gesundheitspolitisch stärker unterstützt werden, insbesondere dann, wenn es Ambivalenzen in einer Schwangerschaft gibt. Es braucht Vorsorge und konkrete Angebote wie Feinfühligkeitstraining für Eltern, das bislang viel zu selten ist. Bisweilen wird die Unfähigkeit zur Bindung daher über die Generationen weitergegeben. Kinder und Heranwachsende brauchen Aufmerksamkeit und Zugewandtheit, aber auch Orientierung und Grenzen.
 

Kurt Brylla im Gespräch
„Wichtig ist, nicht jede Krise zu pathologisieren“: Kurt Brylla, Diakon und Psychotherapeut in Hannover. Foto: kna/Philipp Rössling

Bräuchte es für diese Themen ein stärkeres Bewusstsein?
Ja, denn das Bindungsstreben ist ein biologisch verankertes Bedürfnis des Menschen. Es ist nicht weniger bedeutungsvoll für das Überleben, die Reifung und Entwicklung als die Zufuhr von Nahrung, Schlaf und Schutz vor Kälte. Zudem bekommen Kinder erst durch Spiegelung ihrer Bezugspersonen ein Bild von sich und der Welt: Sie erkennen in Gesichtern, was jemand fühlt.
 

Was folgt daraus für Eltern und andere enge Bezugspersonen?
Ein Beispiel: Sie gehen mit Ihrem Kind spazieren. Das Kind entdeckt ein Vögelchen, einen besonderen Baum und sagt: Mama, guck mal! Es macht einen Unterschied, ob Sie als Mutter sofort interessiert reagieren – oder ob Sie gleichzeitig auf Ihr Handy schauen. Im letzteren Fall erfolgt die Spiegelung zeitverzögert. Ich will die neuen Medien nicht verteufeln. Solche Situationen passieren jedem einmal, aber man muss sich klarmachen, dass eine bestimmte Mediennutzung lebensnotwendige Entwicklungsprozesse stören kann.
 

Was sind Warnzeichen für eine akute Krise?
Wichtig ist, nicht jede Krise zu pathologisieren. Beispielsweise die Adoleszenz, also die Pubertät, ist gewissermaßen eine natürliche Lebenskrise. Darauf reagieren Menschen unterschiedlich: Manche hauen auf den Putz, andere ziehen sich eher zurück – früher hätte man gesagt, in Tagträume. Letzteres wird heutzutage durch die virtuellen Welten unterstützt. Sie können vorübergehend eine Hilfe sein, um sich von Sorgen abzulenken. Aber sie sollten nicht dazu führen, dass jemand einer schwierigen Situation dauerhaft ausweicht.

Haben Sie einen Tipp, was jungen Menschen grundsätzlich guttut?
Das Wichtigste ist die Achtsamkeit – schon für das werdende Leben und später für Kinder und auch Jugendliche. Dafür braucht es eine Gesellschaft, die es einer Schwangeren ermöglicht, sich mit dieser neuen Situation auseinanderzusetzen, und übrigens auch einen Vater, der regelmäßig mit dem Fötus kommuniziert. Nach der Geburt erkennt das Baby die Stimmen der Eltern wieder. Dafür braucht es einen würdigen Raum, der im heutigen Turbo-Kapitalismus oft alles andere als selbstverständlich ist.
 

Was meinen Sie damit?
Der Kampf um Gleichberechtigung ist ein berechtigter. Allerdings darf er nicht auf Kosten von Kinderseelen geführt werden. Es ist gut und wichtig, wenn alle Eltern das Recht auf einen Krippenplatz haben. Aber dann braucht es auch die Voraussetzungen dafür, dass ein Kind mit einem Jahr diese Trennung gut übersteht. Dazu gehört eine Eingewöhnungszeit, in der die Eltern das Kind begleiten. Doch aus Krippen ist zu hören, dass Eltern diese Eingewöhnung nicht mitmachen wollen oder können, weil sie wieder arbeiten müssen, damit das Geld reicht. Zudem fehlt allenthalben Personal. Dann wird aus einem guten Anliegen eine Gefahr für die Entwicklung von Kindern.

Die ökumenische „Woche für das Leben“ hat sich in diesem Jahr der Sinnsuche junger Menschen gewidmet. Ist Kirche in diesem Zusammenhang noch gefragt?
Ich hoffe, dass die Kirche nicht aufgibt, sich dem zu widmen, „was uns unbedingt angeht“, also auch der Frage nach dem Sinn. Kinder und Jugendliche bekommen durchaus mit, wie die Gesellschaft häufig mit Werten umgeht, etwa in Fällen von Korruption. Daher braucht es Institutionen, die dem etwas entgegensetzen. Zum Beispiel die Nächstenliebe, bei der es ja nicht um etwas Exklusives geht, das nur Heilige leisten können. Das Ziel ist, aufeinander achtzugeben und zu sagen: Das Leben der anderen ist mir nicht gleichgültig.
 

kna