Verpflichtendes Gesellschaftsjahr
„Man kann die Leute nicht zwingen“

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Bundeswehr oder Seniorenheim: Wenn ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr eingeführt würde, müssten junge Erwachsene zwischen dem Wehrdienst und einem zivilen Pflichtdienst wählen.
Oberstufenschülerinnen und -schüler sitzen an diesem Freitagmorgen im Halbkreis zusammen in einem Klassenraum der Osnabrücker Angelaschule. Sie gehören zu zwei Politikkursen der zwölften Jahrgangsstufe und diskutieren, ob ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle eingeführt werden sollte. Links die Befürworter, rechts die Gegner. Einer von ihnen moderiert.
Zu Beginn machen zwei Schülerinnen deutlich, dass man sie keineswegs zu etwas verpflichten muss. Sie sind ehrenamtliche Jugendgruppenleiterinnen. „Fast alle von uns haben ein Ehrenamt und wir bemühen uns, etwas Soziales für die Gesellschaft zu tun“, sagt Kerstina. Zu behaupten, junge Leute würden sich zu wenig engagieren, empfindet sie als „ziemliche Unterstellung“.
„Jetzt haben wir Krieg in Europa"
Die 18 jungen Erwachsenen legen im nächsten Jahr das Abitur ab und können dann wählen: Studium, Ausbildung, Wehrdienst oder Freiwilligendienst? Drei von ihnen wissen schon jetzt, dass sie zur Bundeswehr gehen wollen. Neun denken darüber nach, einen Freiwilligendienst zu machen. Die anderen wollen weder das eine noch das andere. Einen Pflichtdienst jedoch empfinden zwei Drittel von ihnen als ernsten Eingriff in ihre Freiheit. Bundesweit wollen laut dem ARD-DeutschlandTrend im April 2025 unter den 18- bis 34-Jährigen 37 Prozent die Wehrpflicht weiter aussetzen, 24 Prozent die alte Wehrpflicht wieder einführen, 31 Prozent den Dienst auch auf Frauen ausweiten.
Würde ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr eingeführt, müssten junge Erwachsene nach der Schule oder später den Wehrdienst oder einen zivilen Pflichtdienst antreten. Das fordern vor allem CDU-Politiker. Aus deren Sicht ist die Zahl derer, die freiwillig einen Wehrdienst oder Zivildienst leisten, zu gering. Im März lag die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden bei 11 000 Soldatinnen und Soldaten. Das Bundesfamilienministerium spricht von etwa 90 000 Menschen, die pro Jahr einen zivilen Freiwilligendienst leisten. Mit einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr würde sich die Zahl der Wehrdienstleistenden erhöhen, so die Hoffnung vieler Politiker.
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine hat die Schülerinnen und Schüler in ihren Haltungen bestärkt. Jan sagt: „Bisher waren Kriege immer weit weg von uns. Aber jetzt haben wir Krieg in Europa.“ Er ist sich nicht sicher, ob der russische Präsident Putin in der Ukraine Halt macht. Dass er nach dem Abitur zur Bundeswehr gehen möchte, steht für ihn schon lange fest.

Für Tim ist der Krieg in der Ukraine „angsteinflößend“. Aber er ist nach wie vor gegen einen Pflichtdienst. Er sagt, dass „man die Leute nicht zwingen kann“ und dass jeder selbst entscheiden solle, ob er einen Dienst für die Gesellschaft leistet. Auch Kerstina setzt auf Freiwilligkeit. Mittlerweile kann sie die Argumente für einen Pflichtdienst verstehen, „weil der Krieg Angst macht“. Doch sie sagt, statt Menschen zum Wehrdienst oder Zivildienst zu verpflichten, solle man Freiwillige gewinnen, „die das auch wirklich wollen“. Sie fürchtet, dass Menschen, die man verpflichtet, häufig „ihre Zeit absitzen“ und „nur das Nötigste tun“.
Dass bei einem Pflichtdienst „die Qualität der Arbeit sinken würde“, glaubt auch Raphael. Und dass Leute sogar auswandern würden, um dem Dienst zu entgehen. Das sei „ziemlicher Quatsch“, antwortet ihm Bennet: „Wer kann sich das denn leisten: auszuwandern?“
Einige in der Klasse sagen, man solle den Freiwilligendienst attraktiver machen, wie Kerstina. „Es gibt ja ein Freiwilliges Soziales Jahr, aber die Freiwilligen bekommen nur sehr wenig Geld“, sagt sie. „Und ich glaube, dass viele Menschen deshalb keinen Freiwilligendienst machen wollen.“
„Man kann auch mal was zurückgeben“
Eine Schülerin denkt an ihr dreiwöchiges Sozialpraktikum in der elften Klasse zurück. Während der Zeit hat sie erlebt, dass die Mitarbeitenden in sozialen Einrichtungen „total gestresst und überlastet sind“. Das wirkte sich auch auf die Begleitung der Praktikanten und FSJler aus. Sie möchte nicht noch einmal in einer sozialen Einrichtung arbeiten. Ständig hatte sie das Gefühl, „den Patienten nicht gerecht werden zu können, weil es einfach zu viele sind“, erzählt sie. Aus ihrer Sicht werden dort mehr ausgebildete Arbeitskräfte anstelle von kaum qualifizierten Pflichtdienstleistenden gebraucht.
Max hingegen ist für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. „Ich finde es wichtig, dass junge Leute ein Bewusstsein entwickeln, was für schlimme Strukturen wir im Moment haben“, sagt er. Er sieht die persönlichen Kompetenzen, die man sich in einer sozialen Einrichtung erarbeitet, zum Beispiel im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen. Und er sagt: „Man kann auch mal was zurückgeben.“ Denn: „Wir profitieren die ganze Zeit von der Freiheit, die wir in Europa haben.“
Auch Bennet ist für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Der Vorteil besteht für ihn darin, dass alle den Dienst tun müssen, „egal, ob sie arm, reich, schlau oder dumm sind“. Er glaubt: „Es stärkt das Gemeinschaftsgefühl, wenn man mit Leuten zusammenarbeiten muss, die aus ganz anderen gesellschaftlichen Gruppen kommen und mit denen man sonst nichts zu tun hat.“
Für Jan hilft das verpflichtende Gesellschaftsjahr, in der Wirklichkeit anzukommen, ob man es in zivilen Einrichtungen leistet oder bei der Bundeswehr. „Wir reden die ganze Zeit über Kriege, ob Taurus in die Ukraine geliefert werden soll oder ob irgendwo eine Friedensmission gestartet werden sollte“, sagt er. „Aber Erfahrungen haben wir nicht.“
Jan ist einer von sechs Jugendlichen, die einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst befürworten würden. Die zwölf anderen Schülerinnen und Schüler lehnen die Verpflichtung ab.