Hirtenbrief von Bischof Georg Bätzing, Limburg

Mehr als du siehst

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Im Hirtenbrief zur Fastenzeit geht es Bischof Georg Bätzing um die Ökumene. „Haben wir noch das brennende Herz, wenn es um die Einheit im Glauben geht?“ So fragt er. Und er wirbt „für einen ökumenischen Aufbruch im 21. Jahrhundert“.


Bischof Georg Bätzing empfiehlt auch im ökumenischen Gespräch einen Dreischritt: Den anderen verstehen wollen, Verschiedenheit als bereichernd ansehen und mehr Verbindendes als Trennendes entdecken. Foto: Bistum Limburg

LIEBE SCHWESTERN UND BRÜDER IM BISTUM LIMBURG!
Das Jahr 2021 ist das Jahr des 3. Ökumenischen Kirchentags. Gute Gastgeber wollten wir sein: als Bistum Limburg zusammen mit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sowie den Bistümern Mainz und Fulda und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Ich weiß, dass sich viele Gemeinden und Gläubige mit Begeisterung und großem Engagement darauf vorbereitet haben. Ihnen allen ein herzlicher Dank und eine Ermutigung: Auch in veränderter Form kann der Ökumenische Kirchentag Impulse für unseren ökumenischen Weg geben. Daher ist es mir ein Anliegen, das diesjährige Wort zur Fastenzeit unter den Titel „Mehr als du siehst – Schritte zur Einheit“ zu stellen, denn Ökumene ist ein wichtiges Stück der Kirchenentwicklung. Ich wünsche uns einen neuen ökumenischen
Aufbruch zur Einheit.

DER SKANDAL DER TRENNUNG UND GESUNDE UNGEDULD
Ein gutes ökumenisches Miteinander ist für viele Menschen im Bistum Limburg ein Herzensanliegen. Sie leben es in ihren Ehen und Familien, im Freundeskreis und der Nachbarschaft, in Kindertagesstätten, Schulen und an vielen anderen Orten. Selbstverständlich ist in vielen Einrichtungen die Seelsorge ökumenisch aufgestellt. Es gibt in unserem Bistum zahlreiche ökumenische Bibelkreise, Taizé-Gebete, den Weltgebetstag der Frauen und viele gemeinsame karitative und soziale Projekte, die schon jetzt über die Grenzen von Kirchorten und Pfarreien hinaus organisiert sind.
Wir erleben aber auch die Last der Trennung, und viele werden einem Ausruf von Papst Franziskus zustimmen: „Die Spaltungen unter uns Christen sind ein Skandal.“ Das Wort Skandal, Ärgernis, hatte schon fünfzig Jahre vorher das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Dekret über die Ökumene verwendet. Ökumene hatte in der Kirche nicht immer einen selbstverständlichen Platz inne. Seit dem Konzil hat sich viel getan: große Konferenzen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung; die Charta Oecumenica, gemeinsam erarbeitete Erklärungen zur Taufe, zu Eucharistie und Abendmahl, zum kirchlichen Amt. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbunds (1999) legte einen 500 Jahre alten Streit bei. Diese gemeinsame Arbeit trug wesentlich zum Gelingen des Reformationsjubiläums 2017 bei. Mit der Koptischen Kirche – deren Gläubige wir auch in unserem Bistum haben – fand sich ein gemeinsames Verständnis der göttlichen und menschlichen Natur Jesu Christi. Solche Ansätze galten vorher als undenkbar. Das Ziel, die sichtbare Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den Ämtern, ist noch nicht erreicht. Papst Franziskus sagte: „Ich teile die gesunde Ungeduld derer, die zuweilen denken, wir könnten und sollten uns mehr dafür einsetzen.“ Aber auch der ungeduldige Papst mahnt, wir dürften es nicht an Dankbarkeit fehlen lassen. Und so hilft immer wieder ein dankbarer Blick auf gemeinsame Wege, die wir mit Gottes Hilfe bereits in der Ökumene gegangen sind.

ALLE SOLLEN EINS SEIN
Die Sehnsucht nach der Einheit hat ihr Fundament im Wort Jesu: „Alle sollen eins sein“. Beim letzten Abendmahl wendet sich Jesus in seinen Abschiedsreden an die Jünger und schließt mit einem Gebet an den Vater: „Ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Johannesevangelium 17, 20-21). Jesus sieht bereits die Einheit bedroht und betet zum Vater. Einheit im Glauben ist kein Selbstzweck, sondern ist von Anfang an auf den Auftrag der Kirche bezogen, missionarisch zu sein.
„Für wen sind wir als Kirche da?“ So fragen wir uns bei der Kirchenentwicklung. Das steckt in dem Wort „Sendung“. Deshalb bedeutet Kirchenentwicklung auch, auf die ökumenische Einheit der Kirche hin zu wirken, damit die Kirche ihren Auftrag in der Welt erfüllen und gestalten kann. Einheit will zum Glauben an Jesus und seine Sendung durch den Vater führen. Jesus hat uns hierfür den Heiligen Geist verheißen. „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung in eurer Berufung: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“, heißt es im Epheserbrief (4, 4). Der Heilige Geist bewirkt in uns die Vielfalt der Gaben und auch die Einheit. Darum dürfen wir immer wieder mit Jesus um die Einheit bitten, wie wir es auch in der Gebetswoche für die Einheit der Christen und bei vielen Anlässen tun.

MIT GEEINTER STIMME
Auf dieser biblischen Grundlage beklagt das Zweite Vatikanische Konzil die Spaltungen in der Geschichte und formuliert:
„Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung“ (Unitatis redintegratio 7). Der ökumenische Buß- und Versöhnungsgottesdienst im Jahr des Reformationsjubiläums am 11. März 2017 in Hildesheim war in dieser Hinsicht vorbildlich. Es brauchte eine „Heilung der Erinnerung“.
Wir erfahren heute immer mehr, dass christliche Botschaften in der Welt, in Politik und Gesellschaft stärker wahrgenommen werden, wenn sie gemeinsam vorgetragen werden. Die Corona-Krise gibt aktuelle Beispiele: der Umgang miteinander, die Problematik der Triage in Kliniken, der weltweit gerechte Zugang zu den Impfstoffen. Der wissenschaftliche Fortschritt erfordert Antworten auf ethische Fragen und verlangt nach Aussagen zur Menschenwürde, zum Beispiel beim assistierten Suizid. Ich denke ebenso an die gemeinsame Verantwortung und den Einsatz für Flüchtlinge und Notleidende. Wie viele Christinnen und Christen arbeiten hier seit Jahren ganz selbstverständlich zusammen, um anderen zu helfen und von ihnen zu lernen. Und auch den Dialog mit anderen Religionen können wir gut gemeinsam führen.

GEMEINSAM AM TISCH DES HERRN
Die für viele drängendste Frage der Ökumene ist: Kann ich in Gottesdiensten der anderen Konfession zum Abendmahl oder zur Kommunion gehen? Seit Jahren wird das Thema ökumenisch beraten, viele Fragen wurden schon geklärt, es bleiben Unterschiede, deren Klärung jetzt umso nötiger wird. Der „Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“ hat im September 2019 ein Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ vorgelegt und will durch seine Arbeit den einzelnen Gläubigen bei einer Gewissensentscheidung unterstützen. Es wird zurzeit ausführlich und kontrovers erörtert. Und diese intensive Debatte ist gut, denn es geht um Wesentliches und sehr Wertvolles. Ich hoffe sehr, dass das Votum zu einer solide begründeten und zugleich vorsichtig verantwortbaren Öffnung der bisherigen Praxis beiträgt.
Gemeinsam am Tisch des Herrn? – Das ist vor allem für viele konfessionsverbindende Ehepaare seit Jahrzehnten eine drängende Frage, die Trennung und Spannungen mit sich bringt. Im Jahr 2018 hat die Deutsche Bischofskonferenz das Dokument „Mit Christus gehen – Der Einheit auf der Spur“ vorgelegt.
Es empfiehlt das Gespräch mit einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin, um eine verantwortete Gewissensentscheidung über den Kommunionempfang treffen zu können. Konfessionsverbindende Paare und Familien geben ein Zeugnis, wie Ökumene im Alltag miteinander gelebt werden kann.

EINHEIT IN VERSCHIEDENHEIT
Was ist das Ziel der Ökumene? Die katholische Kirche ebenso wie der Ökumenische Rat der Kirchen sagen: Ziel ist die sichtbare Einheit aller Gläubigen. Einheit bedeutet dabei nicht Einförmigkeit. Deshalb wird auch von Einheit in versöhnter Verschiedenheit gesprochen.
Auch die katholische Kirche ist in sich nicht einförmig. Das erleben wir in vielen Zusammenhängen: durch die Orden und geistlichen Gemeinschaften, die die Vielfalt der Spiritualität und Nachfolge sichtbar machen, durch die weltkirchlichen Bezüge, über unsere Partnerbistümer, die Priester aus der Weltkirche, über die Gemeinden anderer Muttersprache. Und wir erleben Vielfalt auch am Beispiel der ostkirchlichen Gemeinden, die katholisch, aber nicht römisch-katholisch sind. Sie haben einen eigenen Ritus, eigene spirituelle Traditionen, ja sogar ein eigenes Kirchenrecht, das auch verheiratete
Priester kennt. Die Feier der Liturgie ist in Texten und Symbolen, Gesängen und Gewändern ostkirchlich geprägt. Syromalabarische und syro-malankarische Christen, Maroniten aus dem Libanon, katholische Eritreer, griechisch-katholische Christen aus der Ukraine gehören zu unserem Bistum. Sie kennenzulernen lässt uns die Vielfalt in der einen katholischen Kirche entdecken.
Und Ökumene selbst ist vielfältig, nicht nur evangelisch-katholisch. Wir haben wachsende orthodoxe Gemeinden; mit ihnen teilen wir unter anderem das Verständnis der Sakramente und die Verehrung der Heiligen, vor allem der Mutter Gottes. Ebenso gibt es verschiedene Freikirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind und die auch Regionen unseres Bistums prägen. Der Kontakt in die anderen Konfessionen kann spannend und inspirierend sein. Meist sind diese Kontakte durch persönliche Begegnungen geprägt. Die Erfahrung anderer Kirchen zeigt aber auch: Selbst wenn eine Predigt- und Mahlgemeinschaft erreicht ist, gibt es stets noch viel zu lernen und zu entdecken. Von anderen zu lernen, führt oft erst zu einem besseren Verständnis seiner selbst. Mit der eigenen Verwurzelung und Beheimatung ist ein wertschätzender Blick möglich. Eine Ökumene der Gaben ist dankbar für das, was der Geist den anderen schenkt, und sie erkennt respektvoll Unterschiede an.

MIT ZUVERSICHT UND FREUDE
Mich bewegt die Frage: Haben wir noch das brennende Herz, wenn es um die Einheit im Glauben geht? Spüren wir den Schmerz über die Trennung, oder finden wir uns mit der Tatsache der Spaltung ab? Die Sehnsucht nach der Einheit im Glauben und der Gemeinsamkeit am Tisch des Herrn darf uns, solange wir Kirche sind, nicht verlorengehen.
Ich möchte an dieser Stelle für ökumenische Gespräche und Begegnungen einen Dreischritt vorschlagen, der sich im Ringen um Einheit in anderen Zusammenhängen und auch in persönlichen Gesprächen bewährt hat. Erstens: Die anderen wirklich verstehen wollen mit ihren Anliegen und dem, was ihnen wichtig ist. Zweitens: Die Verschiedenheit zulassen und als Bereicherung begrüßen. Drittens: Davon ausgehen, dass das, was uns eint, viel größer ist als das, was uns trennt. Mir persönlich vermittelt ein solcher Weg Zuversicht und Freude am Kirche-Sein.
Ich wünsche uns für das 21. Jahrhundert einen neuen Aufbruch in der Ökumene und eine veränderte Haltung des Hinsehens wie es auch die Kirchenentwicklung umsetzt. Warum nicht Zukunftsthemen und Herausforderungen entweder ökumenisch oder zumindest in enger Abstimmung angehen? Das wird manche Anstrengung erfordern. Einheit kann es aber nicht erst am Zielpunkt geben. Sie wächst auf dem konkreten Weg, in gemeinsamen Projekten und im ehrlichen Miteinander.
Lassen Sie uns ökumenisch Kirche auf dem Weg sein, vereint mit allen, die an Jesus Christus glauben, in der Verantwortung für die Menschen und für unsere Welt und Umwelt. Dazu segne Sie alle der dreifaltige Gott, der + Vater und der
Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Limburg, zum 1. Fastensonntag 2021
Ihr Bischof Georg Bätzing