Fragen der Menschen zum Thema Suizid
Prävention ist wichtiger
Früher verurteilte die Kirche Menschen, die sich selbst das Leben nahmen. Das hat sich gewandelt. Auf Fragen zum Thema Selbsttötung antwortet der Moraltheologe Professor Stephan Goertz von der Mainzer Universität.
Verstößt ein schwer und unheilbar kranker Katholik im Falle der Selbsttötung mit Betäubungsmitteln gegen das fünfte Gebot? Gilt diese Selbsttötung als Todsünde?
In der Vergangenheit gab es auf diese Fragen eine eindeutige Antwort. Jede Selbsttötung galt als Widerspruch gegen die natürliche Selbstliebe, gegen die sozialen Verpflichtungen und gegen das Hoheitsrecht Gottes über Leben und Tod. Daher sprach man auch vom Selbstmord. Erst in der Aufklärung entwickelt sich so etwas wie Empathie mit dem „Selbstmörder“. Man interessiert sich für die sozialen und individuellen Hintergründe seiner verzweifelten Tat. Daran knüpft die Theologie heute an. Man könnte sagen: Wer sind wir, Menschen zu verurteilen, deren Motive für uns nie ganz transparent sind? Treibt Krankheit oder tragische Ausweglosigkeit einen Menschen in den Tod, dann haben wir es nicht mit einer Sünde zu tun. Nur die freie und bewusste Lieblosigkeit, die anderen grundlos Schaden zufügt und ihre Würde missachtet, ist sündhaft.
Kann dieser Mensch auf Verzeihung des barmherzigen Gottes hoffen?
Die Frage ist, ob es hier überhaupt etwas zu verzeihen gibt. Die Annahme, dass jeder Mensch, der sich das Leben nimmt, eine Sünde begeht, ist fallen zu lassen.
Wir müssen hier sehr vorsichtig sein mit unseren moralischen Urteilen. Die theologisch drängende Frage ist für mich: Kann der Mensch, der sich das Leben genommen hat, Versöhnung finden? Hat er nicht allen Grund, mit Gott zu hadern, der all die Not und all das Leid zugelassen hat, was ihm im Leben widerfahren ist? Muss nicht Gott warten, dass sich der Mensch mit ihm versöhnt? Wir können hier nur noch hoffen, dass Gott Möglichkeiten hat und Wege findet, dass Menschen bei ihm den Frieden finden, der ihnen im Leben versagt blieb.
Sofern das angerufene Bundesverfassungsgericht sich in der zu erwartenden Entscheidung dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts anschließt oder noch eine konforme gesetzliche Regelung erfolgt, wie dürfte sich die Kirche dann verhalten?
Die katholische Kirche wird jede politische Entscheidung und gesetzliche Regelung kritisieren, die sie als Schwächung des Schutzes des menschlichen Lebens betrachtet, sei es an seinem Anfang oder an seinem Ende. Ob dies tatsächlich immer der Fall ist, darüber lässt sich streiten. Für die Kirche dürfte anderes wichtiger sein. Zum einen die Suizidprävention. Hier ist die Pastoral auf vielfältige Weise gefragt. Telefonseelsorger und Telefonseelsorgerinnen zum Beispiel sind mit diesem Thema immer wieder auf bedrückende Weise konfrontiert. Und zum anderen die Begleitung derer, die einen lieben Menschen durch Suizid verloren haben. Eine solche Erfahrung kann Menschen ein Leben lang verfolgen und unter Umständen zerbrechen.
Wenn ein Christ sich mit Unterstützung eines Vereins zur Sterbehilfe in der Schweiz das Leben nimmt, kann ihm in Deutschland dann ein kirchliches Begräbnis verweigert werden? Oder doch nicht, mit Rücksicht auf Angehörige?
Ich greife auf, was ich gesagt habe: Wer sind wir, über Menschen den moralischen Stab zu brechen? In der Vergangenheit war man gegenüber „Selbstmördern“ häufig gnadenlos – sie und zuweilen auch ihre Angehörigen sollten noch nachträglich „bestraft“ werden. Die versuchte Selbsttötung galt als Grund für eine Exkommunikation. Diese Zeiten sollten endgültig vorbei sein. Ein kirchliches Begräbnis grundsätzlich zu verweigern, ist aus meiner Sicht ganz und gar unchristlich. Das tut die Kirche auch nicht mehr. Es widerspricht der biblischen Botschaft: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus“ (Jesaja 42,3).
Die Fragen zusammengestellt hat Anja Weiffen.
Zur Sache: Gerichtsurteil
Hintergrund der Leserfragen ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017. Danach darf der Zugang zu einem Betäubungsmittel, das eine schmerzlose Selbsttötung ermöglicht, in extremen Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden. Im April beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals mit dem Thema.